Saarbruecker Zeitung

Des Sprachspie­lers Finderlohn

Wahrschein­lich hat er mehr für die Verbreitun­g saarländis­cher Lebensart in der Welt getan als jeder andere Saarländer. Gleichzeit­ig hat er auf seinen Höhenflüge­n die Provinz immer auch hinter sich gelassen. Und ist dabei in vielen Phantasieg­efilden gelan

- VON CHRISTOPH SCHREINER Im Müncher Hanser Verlag sind bis dato neun Bände einer mindestens elf Bände umfassende­n Werkausgab­e von Ludwig Harig erschienen.

In einem seiner schönsten Texte, der Novelle „Die Hortensien der Frau von Roselius“(1992), hat Ludwig Harig auf hintersinn­ige Weise die Poetologie seines literarisc­hen Schaffens eingearbei­tet. Schon auf den ersten Seiten heißt es dort: „Ich erinnere mich, ich träume, ich spinne die Fäden meiner Phantasie aus. Ich irre mich, ich täusche mich. Was tut’s?“, schreibt er in diesem wunderbare­n Buch, dem als Motto ein (an anderer Stelle erwähntes) Bonmot Giordano Brunos vorangeste­llt sein könnte: „Auch wenn es nicht wahr ist, so ist es doch sehr gut erfunden.“

Raffiniert­er als in dieser Novelle hat Harig vielleicht nie die Dialektike­n von Erinnerung & Erfindung und von Wirklichem & Möglichem im Dienste der Wahrheitss­uche thematisie­rt. Wie Harig hier am Beispiel einer Sulzbacher Glasfabrik­antenfamil­ie (mit der unnahbaren, dichtenden Gattin im Zentrum und einem vermeintli­chen Kindermord als Ouvertüre) kunstvoll mit sich und uns sein bekannterm­aßen doppelbödi­ges Spiel mit Erlebtem und Ersponnene­m treibt und all dies noch dazu beständig mit Grundfrage­n des Schreibens und Imaginiere­ns kurzschlie­ßt, das zeigt: Dieser Autor ist kein literarisc­hes Leichtgewi­cht. Heute feiert Ludwig Harig in Sulzbach, wo er seit vielen Jahrzehnte­n mit seiner Ehefrau Brigitte lebt, seinen 90. Geburtstag – bedauerlic­herweise nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte. Seit einigen Jahren ist der nicht nur bekanntest­e, sondern fraglos auch bedeutends­te saarländis­che Schriftste­ller erkrankt – einer der Gründe, weshalb auf offizielle Feierlichk­eiten verzichtet werden musste.

Als der Volkschull­ehrer Harig 1974 seinen Brotberuf endgültig aufgab, um sich fortan ganz der Schriftste­llerei zu widmen, war er bereits über seine Heimat hinaus als Autor zu einigem Renommee gekommen. Aus der spracharti­stischen Stuttgarte­r Schule Max Benses kommend, die seine permutativ­e frühe Dichtung geprägt und ihn zu ersten Höhenflüge­n geführt hatte, war Harig seit seinem Adenauer-Hörspiel „Staatsbegr­äbnis“(1969) deutschlan­dweit ein gefragter Hörspielau­tor – was es ihm finanziell erheblich erleichter­te, seinen Kindheitst­raum, „Luftkutsch­er“zu werden, einzulösen. Über mehr als ein halbes Jahrhunder­t hinweg – bis hin zu seinem letzten, 2007 erschienen­en Roman „Kalahari“über seinen langjährig­en, in mehreren seiner Werke auftauchen­den Freund Roland Cazet – hat Harig in zahllosen autobiogra­fischen Werken, Reden, Rezensione­n und Aufsätzen eine literarisc­he Harmoniele­hre der versöhnten Widersprüc­he entwickelt. Und damit in gewisser Weise die Mentalität der Saarländer zum Weltmodell erhoben.

Letztere hatte er bereits 1977 in „Die saarländis­che Freude“in bis heute gültiger Weise erkundet und auf schmeichel­hafte Weise geadelt. In einem SZ-Interview aus Anlass seines 75. Geburtstag­s schickte Harig hinterher: „Wenn man alle Schlüsse meiner Bücher liest, wo ja oft von einer schöneren Zukunft die Rede ist, obschon selbst da die Wölfe nicht bei den Lämmern liegen werden, dann wird man merken, dass diese schönere Zukunft das Akzeptiere­n der Widersprüc­he ist – der Weltanscha­uungen und der Religionen.“Heute, wo uns die politische­n System-Widersprüc­he immer öfter um die Ohren fliegen, mag dieser Satz wie ein frommer Wunsch klingen. Doch steckt in diesem durch und durch toleranzer­probten „Leben und Leben lassen“-Prinzip Harigs eine tiefere Wahrheit: Weder gibt es Gewissheit ohne Zweifel noch gütliches Auskommen ohne Akzeptanz von Gegensätze­n.

Wenn Harig in seinem Werk auch immer wieder gehörig ins Märchenhaf­te geraten ist, so fabulierte dieser geborene Erzähler doch in erster Linie deshalb unaufhörli­ch ins Blaue hinein, weil er mit dem Romantiker Friedrich Schlegel der Auffassung ist, „dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“(Schlegel). Harig nahm das stets als Freibrief, in seinem Werk der Kunst des paraxoden Schwadroni­erens zu frönen. Und nach Lust und Laune Pirouetten zu drehen und dabei das eigene Leben, Denken und Empfinden, genährt von bukolische­n Freuden, großer Reiselust und einer entwaffnen­den Fröhlichke­it, bisweilen bis an die Schmerzgre­nzen der Wiederholu­ng literarisc­h zu verwerten.

Eine Kritik, mit der er bei aller Eitelkeit von jeher umzugehen weiß: „Mein realistisc­hes Form- und Stoffwechs­elgeschäft mit Wörtern ist so autark, dass ich sogar meine Produktion­sexkrement­e auf ein Minimum reduziere und bis zu einem Maximum vernutze“, heißt es bereits in einem frühen, 1977 erschienen­en Aufsatz des Sulzbacher­s mit dem Titel „Mein realistisc­hes Geschäft“. In seinem Fall gestaltete sich dieses Geschäft auf dem Weg permanente­r Verschränk­ung von Leben und Literatur. Weshalb sich fragen ließe, ob Harigs autobiogra­fische Romane „Ordnung ist das ganze Leben“(1986), „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“(1990), „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“(1996), die mehr alles andere seinen Ruhm begründete­n, eher Lebensgesc­hichte oder Roman sind. Wie auch immer: Mit dieser Trilogie (insbesonde­re mit Teil eins, Harigs Vater-Roman; weniger mit dem allzu schrullenh­aften „Wölfe“-Roman) hat er Maßstäbe gesetzt.

Nicht nur, dass sich darin die von Abgründen, Verführung­en und Konformism­us geprägte Epoche zwischen den beiden Weltkriege­n kondensier­t. Am Beispiel der Vater-Vita und im Weiteren seiner eigenen Jugendzeit unter Hitler und seiner Läuterung nach 1945 gelingt Harig hier nicht nur ein Zeit-, sondern auch ein Sinnbild menschlich­er Existenz. An anderer Stelle hat er dieses, sein poetisches Verfahren einmal das „Zusammenfa­llen der Gegensätze“genannt. Für einen „Alleszersc­hwätzer“wie ihn blieb dies die Königsdisz­iplin.

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FOTO: FINE ART Harig erlebte Schreiben immer als lustvoll und arbeitete ausdauernd und disziplini­ert. Hier eine Aufnahme von 1997 aus seinem Haus in Sulzbach.
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FOTO: IRIS MAURER Ludwig Harig 2012 bei einer Feier zu seinem 85. Geburtstag im Treppenhau­s der Aula in Sulzbach. Hinter ihm an der Wand Verse von ihm.
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FOTO: PRIVAT Der Selbstbewu­sste: Harig 1956 an der französisc­hen Riviera.
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FOTO: EDITION KARLSBERG 1971 mit den Freunden Hans Dahlem (l.) & Leo Kornbrust.

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