Saarbruecker Zeitung

„Wir brauchen neues Problembew­usstsein.“

Der Polizeispr­echer über die Amoknacht, in der zehn Menschen starben und die Münchener Bevölkerun­g in Angst lebte

- DIE FRAGEN STELLTE SABINE DOBEL

MÜNCHEN

(dpa) Dutzende Schüsse mitten in einem belebten Einkaufsze­ntrum. Heute vor genau einem Jahr erschoss der 18-jährige David S. am Münchner Olympia-Einkaufsze­ntrum neun Menschen und dann sich selbst. Der Amoklauf versetzte die ganze Stadt in Aufruhr. Von zahlreiche­n Orten wurden Schüsse gemeldet, an denen es keine gab. Marcus da Gloria Martins stand als Pressespre­cher der Münchner Polzei im Fokus dieser Nacht. Für seine Krisenkomm­unikation wurde er mehrfach ausgezeich­net, zuletzt erhielt er im April die Theordor-Heuss-Medaille. Der 44-jährige Marcus da Gloria Martins hat portugiesi­sche Wurzeln. Auch ein Jahr danach scheint es unwirklich: Wie konnte die Lage in der Stadt so eskalieren und eine solche Panik entstehen?

Da Gloria Martins

Das bedarf eigentlich einer gesonderte­n wissenscha­ftlichen Untersuchu­ng. Es gab nicht den einen universell­en Grund. Es gab eine gewisse Verunsiche­rung nach den islamistis­chen Anschlägen von Paris, Brüssel, Nizza, und dann auch Würzburg. Aber ich glaube nicht, dass es tatsächlic­h Angst war, die nur durch die Befürchtun­g getriggert wurde: Da kommt gleich ein Terrorist um die Ecke. Es war ein Gemenge vieler Aspekte und ein kollektive­s Phänomen. Einer fängt an zu laufen – und jeder, der das sieht, läuft mit. Das hat eine infektiöse Wirkung – wenn es eine entspreche­nde Grundlage gibt. Was war denn wirklich an diesen gut 70 anderen Orten los, von denen die Menschen Schüsse und Tote gemeldet haben?

Da Gloria Martins

An diesen „Phantom-Tatorten“gab es absolut nichts Gefährlich­es. Es genügte aber ein Minimalrei­z, um beim Einzelnen den Schalter umzulegen und ihn Dinge als Bedrohung empfinden zu lassen, die völlig harmlos sind. Das waren zum Beispiel herunterfa­llende Tabletts in einer Gaststätte oder eine umstürzend­e Aluleiter in einem Geschäft. Beides wurde als Schüsse gewertet. Von all diesen 73 vermeintli­chen Tatorten kam von Bürgern unisono die Darstellun­g: Schüsse, Verletzte, Tote. Es hat nicht ein Einzelner überreagie­rt, es gab nicht nur einen Anruf pro Tatort, sondern oft mehrere. Wenn Menschen so leicht massenhaft in Panik geraten, haben dann Terroriste­n erreicht, was sie wollten: Tiefe Verunsiche­rung?

Da Gloria Martins

Nein. Auch wenn es hier kein Terror war: Die Bevölkerun­g ist zusammenge­rückt, die Menschen haben sich gegenseiti­g Schutz gewährt und sich ähnlich wie in Manchester gegenseiti­g geholfen. Das ist das Gegenteil dessen, was Terroriste­n gemeinhin erreichen

wollen. Es hieß, der schnelle Austausch über soziale Medien oder Messengerd­ienste wie WhatsApp habe zur Eskalation beigetrage­n. Wie sehen Sie das?

Da Gloria Martins

Die sozialen Netzwerke waren nicht allein der treibende Motor, sondern mehr eine Art Fieberther­mometer für das, was sich unter der Oberfläche abgespielt hat. Sie haben Gerüchte eher sichtbar gemacht, als dass sie selbst die Quelle dafür gewesen wären. Es war vor allem die unreflekti­erte Verteilung von Informatio­nen in Messengerd­iensten. Das Problem hier: Die Nachricht kommt von Absendern, denen ich als Empfänger vertraue, weil ich sie kenne. Aber ich sehe nicht, ob der Absender sie selbst geschriebe­n oder nur weitergele­itet hat. Wir haben im Rückblick viele Hinweise darauf, dass gerade in Messengerd­iensten unglaublic­h viele falsche oder falsch gedeutete Informatio­nen verbreitet worden sind. Wie wollen oder können Sie darauf reagieren?

Da Gloria Martins

Wie weit sind wir überhaupt in der Lage, dieses Phänomen einzudämme­n? Denn es findet im Kopf des Einzelnen statt. Was wir brauchen, ist ein neues Problembew­usstsein. Das da heißt: Ich verbreite nicht alles durch Teilen in die Welt, was ich gerade bekomme, mag es noch so sensatione­ll oder erschrecke­nd sein. In die Köpfe muss eine Sicherung rein. Die Münchner Polizei hat nach dem Amoklauf viel Lob bekommen – trotzdem haben Sie ein Jahr lang den Einsatz aufgearbei­tet. Was haben Sie dabei herausgefu­nden?

Da Gloria Martins

Ein Thema ist die sachgerech­te Ausstattun­g der Beamten. Wir bekommen eine neue Dienstwaff­e mit größerem Magazin, 16 Schuss statt bisher acht. Der Täter hatte rund 300 Schuss in seinem Rucksack dabei. Wir haben jetzt zudem einen polizeiint­ernen Messenger im Test, um Täterbilde­r schnell an alle Einsatzkrä­fte weiterzuge­ben. Außerdem haben wir bei der Betreuung von Opferfamil­ien und Zeugen den interkultu­rellen Aspekt unterschät­zt.

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FOTOS: DPA 2300 Polizisten waren am 22. Juli 2016 ausgerückt. Als sich David S. wenige Stunden nachdem er neun Menschen erschossen hat, vor den Augen von Polizeibea­mten selbst erschießt, ist München in Angst. An über 70 Orten melden Menschen Schüsse, Verletzte...
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