Die Wie-immer-Kanzlerin und die Flüchtlinge
Die hitzige Attacke von Martin Schulz soll Angela Merkel in den offenen Wahlkampf locken. Ob das gelingt, ist aber fraglich.
„Wer versucht, das Thema bis zur Bundestagswahl zu ignorieren,
verhält sich zynisch.“
SPD-Herausforderer Martin Schulz
über die Flüchtlingsfrage
(dpa/SZ) Ist er es womöglich doch, der letzte Kanzler-Sommer von Angela Merkel? Gerade ist ein solches Negativszenario bei der Union zwar alles andere als akut, und die CDU-Vorsitzende ist im Urlaub. Nach dem erbitterten Asyl-Streit mit der CSU hat Merkel die Reihen geschlossen und hält SPD-Herausforderer Martin Schulz in Umfragen wieder auf Distanz. Dementsprechend macht die 63-Jährige Amtsinhaber-Wahlkampf, so wie immer. Aber Vorsicht: Zu viel Siegesgewissheit soll sich nicht breit machen. Zumal ein Thema wieder brisant werden könnte, das schon verdrängt war: die Flüchtlingskrise.
Dass die Ausgangslage für Merkel zwei Monate vor der Entscheidung um die Macht vergleichsweise komfortabel ist, hätten auch viele Unionsstrategen nicht gedacht. Diese Wahl werde schwierig „wie keine zuvor“seit der deutschen Einheit, warnte Merkel noch im November. Da hatte sie gerade verkündet, wieder anzutreten – mit der Ambition auf dann 16 Jahre im Kanzleramt. Wahrlich „kein Zuckerschlecken“werde die Auseinandersetzung, mit starker Polarisierung und Anfechtungen von rechts wie nie, prophezeite sie beim CDU-Parteitag im Dezember. Und formulierte den Appell: „Ihr müsst, ihr müsst, ihr müsst mir helfen.“
War da was? In eine Wahlkämpferin „wie nie zuvor“hat sich Merkel bis dato nicht verwandelt. Selbst als Rivale Schulz zu Jahresbeginn zum Umfragekönig aufstieg und die SPD auf Augenhöhe brachte, schaltete die Kanzlerin nicht auf Offensive. Ungerührt weiterregieren, lautete die Devise, die sogar manche in den eigenen Reihen nervös machte. Dann kamen überraschend klare CDU-Siege bei den Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen. Aber alle Vorfreude für die Aussichten im Bund dimmte Merkel umgehend.
Wenn sie Mitte August aus den Urlaubstagen im Grünen ins politische Berlin zurückkommt, wird es ein direkter Start in den Wahlkampf. Mehrere Dutzend Auftritte sind geplant, allein neun im CSU-Revier Bayern. Wie wird die Stimmung sein? Bis auf weiteres macht Merkel keine Anstalten, etwas ganz anderes zu liefern als wieder einen konzentrierten Titelverteidiger-Wahlkampf. Dazu gehört, den Amtsbonus auszuspielen, den Rivalen nicht aufzuwerten, Angriffe ins Leere laufen zu lassen. Und Vorsicht, nicht zu sicher sein. Denn Stimmungen und die Agenda können sich rasch drehen.
Am Wochenende hat SPD-Herausforderer Schulz denn auch einen Versuch gestartet, Merkel aus der Reserve zu locken. Und zwar ausgerechnet in der Flüchtlingspolitik, die bisher so gut wie keine größere Rolle im Wahlkampf spielte. „Wer versucht, das Thema bis zur Bundestagswahl zu ignorieren, verhält sich zynisch“, donnerte der Kandidat via „Bild am Sonntag“mit Blick auf Tausende Mittelmeer-Flüchtlinge in Italien. Ob die schwer kalkulierbare Attacke zündet, muss sich zeigen. Während Schulz gestern harsche Kritik aus den Reihen von Union und FDP erntete (und Applaus seitens der AfD), hat Merkels Flüchtlingskurs durchaus parteiübergreifend Anhänger. Eine sensible Stelle der Union testet Schulz mit seinem Vorstoß aber aus.
Denn nur mühsam haben CDU und CSU das Thema heruntergekühlt, das die Schwesterparteien monatelang erhitzte und Teile der Basis schwer gegen Merkel aufbrachte. „Eine Situation wie im Jahre 2015 soll und darf sich nicht wiederholen, da alle Beteiligten aus dieser Situation gelernt haben“, lautet die Versöhnungsformel im gemeinsamen Programm. Auf Seite 64. Doch weiter strittig ist die zentrale CSU-Forderung nach einer Obergrenze für die Zahl der Flüchtlinge, die im separaten „Bayernplan“landete – versehen mit einer Art Umsetzungsgarantie.
Kurz vor dem Urlaub hinterließ Merkel jedoch kühl, ihre Haltung zur Obergrenze sei klar: „Das heißt, ich werde sie nicht akzeptieren.“Wie robust ist also der Wahlkampf-Frieden der Union, für den CSU-Chef Horst Seehofer die Kanzlerin in höchsten Tönen lobt? Ein Kick wäre, wenn Merkels Kampagne wiederholen könnte, was der CDU in den drei Landtagswahlen auch im Wettstreit mit der AfD gelang: für eine höhere Wahlbeteiligung zu mobilisieren – und davon zu profitieren.