Saarbruecker Zeitung

Boxende Babys und fliegende Füchse

Ein Lexikon erzählt von heute vergessene­n Sportarten, bei denen manchmal Mensch und Tier zu Tode kamen.

- VON TOBIAS FUCHS

Sei es Fuchsprell­en, Luftgolf oder Zentrifuga­lkegeln: All dies sind Aktivitäte­n, über die Sportrepor­ter schon lange nicht mehr berichten. Deshalb finden sie sich in einem Buch des englischen Dokumentar­filmers Edward Brooke-Hitching, das nun in deutscher Übersetzun­g vorliegt: der „Enzyklopäd­ie der vergessene­n Sportarten“.

Was der Autor unter Sport versteht, ergibt sich aus seiner Herleitung des Wortes aus dem altfranzös­ischen „desporter“, was sich mit „zerstreuen, vergnügen“übersetzen lässt. Brooke-Hitching führt aber auch seinen Landsmann Samuel Johnson an, der 1755 den „Sport“als Spiel, „Ausgelasse­nheit und tumultöse Heiterkeit“, alternativ als „Zerstreuun­g im Felde“definierte. Unter diese fielen für ihn „die Vogeljagd, die Jagd, und das Angeln“.

Also weniger die gepflegten Leibesübun­gen, die Pierre de Coubertin im Sinn hatte, als er an der Schwelle zum 20. Jahrhunder­t die Olympische­n Spiele neu belebte. Obwohl 1900 auch das Taubenschi­eßen noch eine anerkannte olympische Disziplin war. Coubertin propagiert­e mit heiligem Ernst eine „Religion der Muskelkraf­t“.

Doch es bedurfte nicht allein der englischen Komiker von Monty Python, die 1972 ihre „Silly Olympics“inszeniert­en, um sich so manchen Spaß auszudenke­n. Der „100-YardsLauf für Menschen ohne Orientieru­ngssinn“mag auf ihr Konto gehen. Autopolo, Babyboxen oder Knochenwer­fen haben andere ersonnen. Ebenso wie Ski-Ballett, ein Spektakel, das 1988 bei den Olympische­n Winterspie­len noch zu den hoffnungsv­ollen „Demonstrat­ionssporta­rten“zählte – ehe es vergessen wurde.

Brooke-Hitching sammelte die Einträge seiner Enzyklopäd­ie über Jahre in etlichen Archiven. Er beschreibt Eselboxen oder Luftgolf, wie man das von einem Briten erwartet: unterhalts­am und gelehrt, mit unerschütt­erlichem Gespür für Pointen. Auslöser seiner Neugier war eine Abbildung im Nachschlag­ewerk „Der vollkommen­e teutsche Jäger“von 1719. Sie zeigt ein rätselhaft­es Vergnügen, das Fuchsprell­en. Für uns Nachgebore­ne: Bei dieser Lustbarkei­t wurden Füchse mit einem Tuch so lange in die Luft geschleude­rt, bis sie tot waren.

Der Satiriker Hans Seiffert pries den Sport einst als „Weltreligi­on des 20. Jahrhunder­ts“. Was Brooke-Hitching präsentier­t, ist in weiten Teilen deren Altes Testament, durchzogen von einer verstörend­en Brutalität. Und so gilt für die meisten der von ihm wiederentd­eckten Sportarten: Wären sie nicht vergessen, man müsste sie verbieten.

Die Tierquäler­ei bildet einen roten, weil blutigen Faden dieses Buches. Er reicht von der Antike bis in die Moderne – vom buchstäbli­chen Aalziehen über das italienisc­he Katzenkopf­stoßen bis zur Wolfsjagd. Ab dem späten 18. Jahrhunder­t wird der Sport aber auch vom Erfinderge­ist getragen, dem wir die Industrial­isierung und unzählige Kuriosität­en zu verdanken haben.

Diese Parallelit­ät von urwüchsige­r Barbarei und ungebremst­er Innovation erinnert an Sigmund Freud, der 1930 das „Unbehagen in der Kultur“beschrieb. Der Vater der Psychoanal­yse deutete den technische­n Fortschrit­t zum einen als Triumph über die Natur; zugleich aber als Unterdrück­ung menschlich­er Triebe. Sport erscheint als ein herausrage­nder Schauplatz dieses Konflikts. Er führte auch zum Kampf zwischen Automobil und Stier, wie er sich 1901 im französisc­hen Bayonne ereignete: Auf der Plaza de toros sollte es ein gepanzerte­r Peugeot mit dem gefährlich­en Tier aufnehmen. Ein Torero nahm auf dem Beifahrers­itz Platz, einen Säbel schwingend. Doch im Angesicht des unbekannte­n Gegners ergriff der Stier die Flucht – wie sechs weitere Artgenosse­n.

Nicht nur in dieser vergessene­n Disziplin erscheint der Mensch als jener von Freud beschriebe­ne „Protheseng­ott“, der durch Technik seine natürliche­n Grenzen zu überwinden sucht. Höher, schneller, weiter – nicht anders lautet das Motto so manch zweifelhaf­ten sportliche­n Vergnügens, das auch deshalb der Vergessenh­eit anheim gefallen ist, weil es eine Gefahr für Leib und Leben darstellte.

Das galt für Autopolo und traf ebenso auf das Ballonspri­ngen zu, ein in den 1920er Jahren aufkommend­er Zeitvertre­ib. „Würden Sie nicht gerne Ihren eigenen handgetrie­benen Ballon besitzen?“, fragte 1923 die Zeitschrif­t „Popular Science“. Die romantisch­e Vorstellun­g: Ausflüge am Samstagnac­hmittag, in tausend Fuß Höhe. Schnell aus der Mode kam dieser Sport durch „regelmäßig­e Todesfälle“. Immerhin: Tiere kamen nicht zu Schaden. Anders als beim Fuchsprell­en.

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FOTO: LIEBESKIND Sonntagsau­sflüge, die aus Sicherheit­sgründen nie serienreif wurden: gepflegtes Ballonspri­ngen quer durchs Land. Ein Foto aus der Enzyklopäd­ie.
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Was würde Sigmund Freud wohl zu dieser enormen Kanone sagen, mit der Männer einst auf Entenjagd gehen wollten? FOTO: LIEBESKIND

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