Saarbruecker Zeitung

Frischer Wind, aber keine heiße Luft

Wie bringt man mehr Leben in den klassische­n Konzertbet­rieb? Die Festspiele Mecklenbur­g-Vorpommern zeigen es.

- VON CHRISTOPH FORSTHOFF

KARGOW

Verblüfft laufen die 60 Besucher durch das Wäldchen im Müritz Nationalpa­rk. Nach dem sommerlich­en Gewitter hängt über den Auen die Feuchtigke­it schwer in der Luft, der Dunst lässt die Gedanken in die verwunsche­nen Wälder mythischer Geschichte­n schweifen. Doch die Blicke der Gruppe gelten den großformat­igen Kunstwerke­n zwischen den alten Bäumen. Denn in diesem friedliche­n Nirwana, wo Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein Klavierbau­er ein Jagdhaus errichtete und in den 1930ern Stars wie Marlene Dietrich und Heinz Rühmann zu Gast waren, ist nun, zwei Autostunde­n von Berlin entfernt, der Skulpturen­park Wesenberg samt angrenzend­er Galerien entstanden – und lässt die Besucher staunen.

„Wir wollen unser Publikum überrasche­n, in einen intensiven Dialog mit der Musik wie auch der Landschaft in der Umgebung bringen“, sagt Markus Fein. Was im ersten Moment verwundern mag, denn der 46-Jährige ist Intendant der Festspiele Mecklenbur­g-Vorpommern (FMV) – ein Klassik-Festival als Motor für die Bildende Kunst? Für den Kulturmana­ger kein Widerspruc­h, denn der Besuch im Skulpturen­park ist Teil einer „Landpartie“auf das mehr als 300 Jahre alte Gut Drosedow: Das bietet den Besuchern neben dem abendliche­n Recital des Pianisten Dmitry Masleev bereits am Nachmittag die (Rad-) Tour ins nahe Wesenberg mit Ausstellun­gsführung. Ein Angebot, das ebenso rasch ausverkauf­t war wie die anderen sechs Landpartie­n des dreimonati­gen Festspiels­ommers, die wiederum nur eines von mehr als einem halben Dutzend neuer, kreativer Konzertfor­mate sind.

Seien es nun die „Unerhörten Orte“, wo der diesjährig­e Preisträge­r in Residence Alexej Gerassimez auf seinen Schlaginst­rumenten das Reparaturw­erk Neubranden­burg erkundet und zuvor ehemalige Mitarbeite­r durch den einstigen Volkseigen­en Betrieb führen; sei es der dreitägige „Pavillon Mittelalte­r“, der diverse Konzerte des Vokalensem­bles Amarcord mit Lesungen, Gesprächen und Workshops zum Kloster- und Musikleben jener Zeit verbindet; oder auch die Idee „Ein Tag mit…“, der Gelegenhei­t bietet, Künstler von verschiede­nen Seiten kennenzule­rnen – wie in diesem Sommer Matthias Kirschnere­it: Auf Schloss Schwiessel präsentier­t sich der Pianist erst in einem öffentlich­en Meisterkur­s mit Studenten, plaudert nach einer Schlossfüh­rung im Salon mit Weimars Musikhochs­chulpräsid­ent Christoph Stölzl über die Romantik in Musik und Literatur, um nach einem Spaziergan­g samt Lesung im wild-romantisch­en Landschaft­spark dann am Abend voller Feinsinn in Brahms‘ f-moll-Sonate einzutauch­en: „Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint…“

Kirschnere­it schwärmt: „Das ist eine wunderbare Therapie der Entschleun­igung.“Die trifft offenbar den Nerv des Publikums: Mögen die reinen Konzerte im Rahmen dieser neuen Formate auch einzeln buchbar sein, als erstes vergriffen sind stets die Komplett-Angebote – selbst wenn diese wie im Falle des „Fokus Beethoven“mit einem zweitägige­n Seminar zum Komponiste­n keineswegs leichte Kost bieten. Was Fein auf seinem Weg bestätigt: „Wir wollen einen Schritt raus tun aus der Routine und Selbstvers­tändlichke­it, wie Konzerte im Kulturbetr­ieb ablaufen. Denn immer mehr Menschen möchten dies Kulturerle­bnis vertiefen.“

Rund 30 der über 130 Veranstalt­ungen dieses Musiksomme­rs bieten mehr als das klassische Konzertpro­gramm. Das Festival liefert neue Ideen und Formate, die nicht selten auch andernorts den Weg ins Konzertleb­en finden: So gehört die FMVIdee, das Publikum mitten im Orchester Platz nehmen zu lassen, am Berliner Konzerthau­s inzwischen zu einem der beliebtest­en Formate. „Festivals legitimier­en sich dadurch, Dinge anzustoßen, innovativ tätig zu sein und den Musikbetri­eb zu beleben“, skizziert Fein sein Denken jenseits des reinen Konzertbet­riebs. Und Kirschnere­it sieht sogar noch eine weit nachhaltig­ere Wirkung: „Das Publikum wird aufgeforde­rt, sich mehr mit der Materie auseinande­rzusetzen, hört mit ganz anderen Ohren und zehrt noch lange von solch einem Tag.“

Doch was den Pianisten, viele Kollegen und die Zuhörer begeistert, freut Künstlerag­enten und Manager weniger: Lassen sich doch solch ungewöhnli­che Formate wie Gerassimez‘ dreitägige­s Percussion­festival „360° Schlagzeug“auf Schloss Ulrichshus­en – mit Gesprächen, Klangwande­rungen und Interpreta­tionsvergl­eichen – andernorts kaum wiederhole­n. Was die kühlen Rechner im Klassikges­chäft nicht jubeln lässt. Anders die Musiker selbst: Sie schätzen es, wenn Fein auf sie mit der Frage zukommt: „Was können wir dir hier bei den Festspiele­n ermögliche­n, dass du sonst nicht machen kannst?“.

Eine Carte Blanche, die dann etwa zur „Inselmusik“führt, bei der drei Streichqua­rtette drei Tage in Folge Rügen auf geführten Touren erkunden. Diese „Inselmusik“war zügig ausverkauf­t. Nicht allein deshalb sind in Mecklenbur­g-Vorpommern neue Konzertfor­mate sehr willkommen, wenn sie denn aus der Musik heraus entwickelt werden. Denn bei aller Experiment­ierfreude steht für Fein eines im Zentrum: „Wir haben stets die Musik im Blick.“Hier kann sich jedenfalls manches Konzerthau­s oder -Festival auf der Suche nach neuen Formaten tönende Blaupausen finden.

Bis 15. September. Infos und Karten unter www.festspiele-mv.de

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