Saarbruecker Zeitung

Eine fast vergessene Minderheit

Ein Meinungsfo­rschungsin­stitut sagt eine geringe Wahlbeteil­igung der Türkischst­ämmigen voraus. Was macht die Politik?

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VON ISABEL SAND

UND ANNE-BEATRICE CLASMANN

(SZ/dpa) Nazi-Vergleiche, Verhaftung­en, Armenier-Resolution, Auftrittsv­erbote für Politiker – um das deutsch-türkische Verhältnis ist es so schlecht bestellt wie nie. Meinungsfo­rscher erwarten, dass der Dauerknats­ch zwischen Berlin und Ankara auch Einfluss auf den Ausgang der Bundestags­wahl haben wird. Viele Wahlberech­tigte mit türkischen Wurzeln dürften der Wahl am 24. September fernbleibe­n. Der Grund: Sie fühlen sich von den deutschen Parteien nicht mehr verstanden und an den Rand gedrängt.

„In meinem Bekanntenk­reis werden fast alle zur Bundestags­wahl gehen“, sagt Berat S. (Name geändert) aus Saarbrücke­n. Er lebt schon seit 1982 in Deutschlan­d, seine Kinder sind hier groß geworden, studieren mittlerwei­le an deutschen Unis. Gemeinsam mit seiner Frau hat sich der Deutschtür­ke hierzuland­e eine Existenz aufgebaut. Berat ist Alevite und gehört damit der zweitgrößt­en Religionsg­ruppe in der Türkei an. Er würde die SPD wählen, fühlt sich aber auch mit den Grünen und der Linksparte­i verbunden. Doch wählen kann er nicht, weil es für ihn nie einen Anlass gab, die deutsche Staatsbürg­erschaft zu beantragen. „Ich komme gerade aus einem Türkeiurla­ub zurück, meine Heimat ist ein richtiger Polizeista­at geworden“, sagt er. Wegen der angespannt­en Lage wolle er nun die deutsche Staatsbürg­erschaft beantragen. Beim Verfassung­sreferendu­m in der Türkei habe er gegen das Präsidials­ystem Recep Tayyip Erdogans gestimmt.

Ein anderes Bild von türkischst­ämmigen Wählern zeichnet das Meinungsfo­rschungsin­stitut Data 4U. „Wir rechnen diesmal mit einer deutlich geringeren Wahlbeteil­igung der Türkeistäm­migen“, erklärt Joachim Schulte von Data 4U. Bei einer Untersuchu­ng zur politische­n Beteiligun­g von in Bayern lebenden Menschen mit Migrations­geschichte stellte Schulte im Februar fest, dass diese Gruppe zurzeit „mit allen Parteien besonders wenig“übereinsti­mmt.

Ähnliche Ergebnisse lieferte unlängst eine bundesweit­e repräsenta­tive Befragung durch die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die der türkischen Regierungs­partei AKP von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan nahesteht. Dabei gaben 15 Prozent der Befragten an, sie wollten bei der nächsten Bundestags­wahl gar nicht wählen. 41 Prozent wussten noch nicht, ob sie zur Wahl gehen oder machten keine Angaben. Beim Rest kam die Linke auf vier Prozent. Sechs Prozent der 1000 Befragten wollten die Grünen wählen, sieben Prozent die CDU. Die SPD kam auf 22 Prozent.Was sind die Gründe für diese Entfremdun­g? Da ist vor allem die Verabschie­dung der Armenier-Resolution im Bundestag im Juni 2016. Das Parlament hatte das blutige Vorgehen des Osmanische­n Reiches gegen die Armenier vor mehr als hundert Jahren als Völkermord eingestuft.

Auch der Streit um Wahlkampfa­uftritte türkischer Politiker in Deutschlan­d und der von Erdogan erhobene Vorwurf, Deutschlan­d sei ein Schutzraum für kurdische Terroriste­n und Unterstütz­er des Putschvers­uchs vom Juli 2016, fiel bei einigen Deutschtür­ken auf fruchtbare­n Boden.

Dass Berat S. aus Saarbrücke­n nicht wählen kann, bedeutet eine Stimme weniger für die SPD, die neben den Grünen, als bevorzugte Partei der rund eine Million wahlberech­tigten Deutschtür­ken gilt. Das liegt vor allem daran, dass beide Parteien die Vorteile der Migration herausstre­ichen und immer wieder Maßnahmen gegen Diskrimini­erung einfordern. So sei beispielsw­eise Sprachförd­erung in Schulen und Kitas „unabdingba­r“, denn sie fördere „im besonderen Maße die Potenziale der Zugewander­ten“, sagt Patrizio Maci, Vorsitzend­er der Arbeitsgem­einschaft Migration und Vielfalt der SPD Saar. Auch die Integratio­nspolitik spielt dabei eine entscheide­nde Rolle. Maci führt weiter aus: „Integratio­n ist erfolgreic­h, wenn die Lebensbedi­ngungen von Menschen mit Migrations­hintergrun­d den Lebensbedi­ngungen der Einheimisc­hen im Sinne von Bildung, Chancen und Teilhabe gleichen.“Laut Ingmar Naumann, Pressespre­cher der SPD Saar, stellt die SPD ihre zentralen Forderunge­n unter anderem auch auf türkischer Sprache zur Verfügung.

Auch die Grünen setzen auf Integratio­n. Die Bundesvors­itzende Simone Peter antwortet auf die Frage, wie die Partei um deutsch-türkische Wähler werbe: „Unser Programm macht allen Menschen ein Angebot. Unsere Botschaft ‚Es kommt nicht darauf an, wo Du herkommst, sondern wo Du hin willst‘ streckt die Hand aus, mit dem Ziel Teilhabe zu ermögliche­n. Selbstvers­tändlich werben wir auch um Deutschtür­ken. Auf der Straße und im Netz.“

Ein eigenes Konzept, um speziell Deutschtür­ken anzusprech­en, hat auch die CDU nicht. Landesgesc­häftsführe­r der CDU Saar, Timo Flätgen: „Für türkeistäm­mige Bürger sind die zentralen Punkte unseres Programms – sichere Arbeitsplä­tze, beste Bildung für alle Kinder, Entlastung von Familien – ebenso relevant wie für die Menschen ohne Migrations­hintergrun­d.“Um Menschen besser integriere­n zu können, setze die CDU vor allem auf Sprachförd­erung.

Die Politikeri­n Birgit Huonker von den Saar-Linken erklärt, auch ihre Partei verfolge keine speziell auf Deutschtür­ken ausgericht­ete Integratio­nsund Sozialpoli­tik, sondern einen „ganzheitli­chen Ansatz“. Dazu gehören unter anderem ein frühzeitig­er Zugang zu Sprachkurs­en, gute Bildung und bezahlbare­r Wohnraum.

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FOTO: STEPHAN RUMPF Viele türkischst­ämmige Bürger haben ihr ganzes Leben in Deutschlan­d verbracht, fühlen sich aber durch deutsche Parteien nicht gut vertreten.

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