Der Schrei nach dem Smartphone
Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene zwischen zwölf und 25 Jahren sind abhängig von Anwendungen aus dem Internet. Die Onlinesucht-Ambulanz Oasis der Uniklinik Bochum will Betroffenen und Angehörigen helfen.
BOCHUM
(epd/dpa) Die Zahl der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland, die süchtig nach Online-Anwendungen sind, hat sich seit 2011 fast verdreifacht. Demnach leiden derzeit etwa 600 000 Internetnutzer zwischen zwölf und 25 Jahren an einer Abhängigkeit, bei rund zwei Millionen wird der Gebrauch als problematisch eingestuft. Das geht aus der aktuellen Blikk-Studie zum übermäßigen Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen hervor. Mittlerweile sei das Problem verbreiteter als Cannabis- oder Medikamentensucht, erklärt der Psychologe Florian Rehbein vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.
Auch ein 23-jähriger Student, der anonym von seinen Erfahrungen berichten möchte, wusste schon länger, dass seine Internetnutzung krankhafte Züge annahm. „Aber ich hatte bisher immer Hemmungen, mich mit diesem Problem an einen Fachmann zu wenden.“Der junge Mann war süchtig nach sogenanntem Cybersex, also sexueller Befriedigung über das Netz. Erst mit Hilfe eines Online-Fragebogens zu Internet-Suchtverhalten fand er den Weg in die Verhaltenssucht-Ambulanz der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uniklinik Bochum.
Der Selbsttest, der dem jungen Studenten zu einer Therapie verhalf, ist Teil des sogenannten OasisProjekts, dem Online-AmbulanzService für Internetsüchtige. Über einen psychologischen Fragebogen im Internet und zwei 50-minütige Sprechstunden per Webcam können Betroffene und Angehörige erste Hinweise darauf bekommen, ob sie oder ihr Angehöriger internetsüchtig sind. Sollte das der Fall sein, werden sie anschließend zu einer Klinik oder Beratungsstelle in ihrer Nähe verwiesen.
Die Onlinesucht-Ambulanz wurde von Bert te Wildt, Oberarzt der Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bochum, ins Leben gerufen. Getragen wird sie unter anderem vom Bundesgesundheitsministerium und von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Letztere bietet bereits seit 2011 unter der Webseite insNetz-gehen.de ein Präventionsprogramm gegen exzessives Computerspielen und Internetsurfen, das sich an Jugendliche ab zwölf Jahren und deren Eltern sowie an Lehrkräfte richtet.
Anders als Alkohol- oder Drogensucht ist die Internetabhängigkeit keine offiziell anerkannte Sucht. Stattdessen zählt sie zu den sogenannten substanzunabhängigen Verhaltenssüchten. Ähnlich wie Alkoholsüchtige können aber auch Internetabhängige die Kontrolle über ihr Leben verlieren und unter massiven Entzugserscheinungen leiden. In den USA hat die American Psychiatric Association neun Abhängigkeits-Merkmale formuliert, auf die das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf verweist. Das Zentrum nennt als Warnsignale unter anderem aggressive Reaktionen, wenn ein Jugendlicher plötzlich keinen Zugang mehr zum Internet habe.
Trotzdem sei die Glücksspielsucht bisher die einzige in Deutschland anerkannte Verhaltenssucht, bedauert te Wildt. Der Mediziner hofft, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO bald auch alle möglichen Varianten von Internetabhängigkeiten, etwa Cybersex oder Online-Spielsucht, in die ICD, die Internationale Krankheits-Klassifikation, aufnimmt. Doch auch ohne eine Anerkennung von Verhaltenssüchten kann den Betroffenen geholfen werden. „Bei der Diagnose müssen wir uns allerdings ein bisschen behelfen“, sagt Diplompsychologe Ralph Schliewenz vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Denn Ärzte und Psychologen seien an die ICD gebunden. Daher werden bisher den Verhaltenssüchten zugrundeliegenden Krankheiten wie Impulskontrollstörungen oder Zwangsverhalten diagnostiziert, erklärt Schliewenz.
Über die Bezahlung ihrer Therapie müssten sich Verhaltenssüchtige keine Sorgen machen: „Es kann davon ausgegangen werden, dass Personen mit Verhaltenssüchten eine geeignete Therapie durch die gesetzlichen Krankenkassen erhalten“, versichert Janka Hegemeister vom GKV-Spitzenverband, der Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Internetsüchtige werden oft ambulant und in verhaltenstherapeutischen Gruppentherapien behandelt. Zunehmend gibt es Ansätze, Jugendliche auch stationär aufzunehmen und ihnen zu helfen, sich im realen Leben zurechtzufinden. Ein Beispiel dafür ist „Auxilium Reloaded“, ein Heim für Medienabhängige in Dortmund.