Als die Avantgarde in Stuttgart tobte
An vielen Orten der baden-württembergischen Landeshauptstadt begegnen Reisende steinernen Zeugen der 1920er Jahre.
In den 1920er-Jahren war Stuttgart geprägt von Aufschwung und Umbruch. Die Wirtschaft boomte, Künstlergruppen formierten sich, moderne Bauwerke entstanden – und Josephine Baker tanzte im Friedrichsbau Varieté. Die baden-württembergische Landeshauptstadt entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Zentrum der Avantgarde in Deutschland. Viele Zeugnisse dieser Epoche sind auch heute noch sichtbar. Bei einem Stadtspaziergang lassen sich die steinernen Zeugen der Goldenen Zwanziger entdecken.
Los geht’s beim Hauptbahnhof von Paul Bonatz, der zwischen 1914 und 1928 erbaut worden ist. Das Mauerwerk aus verschiedenen Natursteinarten betont den monumental-archaischen Eindruck ebenso wie die mächtigen, unterschiedlich großen Kuben, aus denen das Gebäude besteht. Lohnenswert ist die Fahrt auf den 56 Meter hohen Turm. Der Blick von der Aussichtsplattform zeigt, dass die Stadt wieder im Wandel ist.
Ins Auge fällt der 61 Meter hohe Tagblatt-Turm. Als er 1928 eröffnet wurde, war es das erste Stahlbetonund in Sichtbeton ausgeführte Hochhaus Deutschlands. Heute gilt es als eines der wichtigsten Zeugnisse des Neuen Bauens in Stuttgart. Von neuem Bauen und Wohnen handelte auch die Werkbund Ausstellung „Die Wohnung“, die zwischen Juli und September 1927 in Stuttgart stattgefunden hat. Auf einem Hügel vor der Stadt entstand damals in kurzer Zeit die Weissenhofsiedlung mit 21 Ein- und Mehrfamilienhäuser von namhaften Architekten wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier. Rund 500 000 Besucher staunten über die Gebäude für moderne Großstadtmenschen.
In einem der beiden Häuser von Le Corbusier, die auf der Unesco Weltkulturerbe-Liste stehen, ist das Weissenhofmuseum untergebracht. Die eine Hälfte des Doppelhauses beherbergt eine Ausstellung über die Entstehung der Siedlung, die andere dient als begehbares Exponat, das Le Corbusiers Philosophie von modernem Wohnen widerspiegelt: Durch verschiebbare Wände konnte der Wohnraum nachts in Schlafräume gewandelt werden. Die Maxime lautete offensichtlich: Funktionalität ist wichtiger als Gemütlichkeit. Insgesamt sind heute noch elf Gebäude im Original erhalten und bewohnt. Die Ausstellung hat einen wichtigen Platz in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
In technischer Hinsicht wurde ebenso ein wichtiger Meilenstein in Stuttgart gesetzt: Hier eröffnete Robert Bosch seine Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik, in der die Zündkerze entwickelt wurde. Später konstruierte Bosch die ersten Beton-Schlagbohrmaschinen und weitere Innovationen für Kraftfahrzeuge, unter anderem die Dieseleinspritzung. Das Erbe des Visionärs wird in der RobertBosch-Stiftung gepflegt. Als Geschäftssitz dient unter anderem das ehemalige Wohnhaus von Robert Bosch. Die denkmalgeschützte Villa liegt in einem weitläufigen Park und ist nur sehr selten für die Öffentlichkeit zugänglich.
Viele weitere Orte und Gebäude in Stuttgart erzählen vom Leben und Wirken Robert Boschs, unter anderem das Krankenhaus und die Volkshochschule, deren Geschichte ebenso in den Nachkriegsjahren des Ersten Weltkrieges begann. Begraben ist Bosch auf dem Waldfriedhof, einem malerischen Ort, der Besucher vom Trubel der Stadt in eine besinnliche Naturkulisse entführt. Die Lage auf dem Hang erforderte ein geeignetes Transportmittel, das 1929 in Betrieb genommen wurde: eine Standseilbahn. Seither sind die beiden Wagen des Erbschleicherexpress auf der 536 Meter langen Strecke unterwegs. Zur einmaligen Zeitreise wird die Fahrt durch die OriginalAusstattung mit viel Teakholz, Messing und Emaille.
Auf dem Waldfriedhof ruhen noch mehr Stuttgarter Persönlichkeiten, etwa der Bahnhofs-Architekt Paul Bonatz sowie die beiden Künstler Adolf Hölzel und Oskar Schlemmer, zwei wichtige Vertreter der Stuttgarter Avantgarde. Wissenswertes über ihr Werk und den Hölzel-Kreis, der sich 1917/18 in einer Austellung im Württembergischen Kunstverein erfolgreich präsentierte, erfahren Besucher des Kunstmuseums. Die Sammlung umfasst 15 000 Exponate vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, unter anderem Werke von Willi Baumeister, einem weiteren Mitglied des Hölzel-Kreises.
Eindrucksvoll ist die Vielzahl an Gemälden von Otto Dix. Vor allem die Goldenen Zwanziger beeindruckten den Maler, wie eines der wertvollsten Exponate des Museums zeigt: Otto Dix’ GroßstadtTriptychon von 1927/28 stellt das Nachtleben in einer Großstadt zu jener Zeit dar. Auf der mittleren Tafel herrscht ausgelassene Stimmung: eine Jazz-Band spielt, Paare tanzen, apart gekleidete Frauen kokettieren mit adretten Männern. Was muss das bloß für eine Zeit gewesen sein.