Aller Zauber hat mehrere Ursachen
„FAZ“-Mitherausgeber Jürgen Kaube und seine kurzweilige Wissenschaftsgeschichte.
SAARBRÜCKEN „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, dichtete Hermann Hesse. Der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Wissenschaftsautor Jürgen Kaube verfolgt die „Anfänge von allem“anhand der Forschungsgeschichte. Ihm geht es nicht um Erfindungen wie das Rad oder die durchlöcherte Nähnadel, sondern um anthropologische Entwicklungen auf einem sich logarithmisch verjüngenden Zeitstrahl. Der setzt vor mehr als drei Millionen Jahren mit dem aufrechten Gang ein, markiert vor etwa 300 000 Jahren die ersten anatomisch modernen Menschen, registriert vor mehr als 30 000 Jahren die frühesten Musikinstrumente und läuft vor etwa 3000 Jahren mit dem ersten Epos in unsere „historische“Zeit aus.
In 16 wissenschaftsgeschichtlichen Kurzessays geht Kaube der Erforschung von anthropologisch und soziologisch bedeutsamen Anfängen nach. Alles beginnt mit dem Anfang des aufrechten Gangs; die Beschreibungen enden mit dem Anfang der Monogamie. Dazwischen geht es um die Anfänge des Sprechens, der Religion, der Stadt oder des geschriebenen Rechts, des Geldes oder des Erzählens. Kaubes Essays haben eine sich ähnelnde Struktur: Neben eine kurze Bedeutungsanalyse tritt bald eine kritische Würdigung der Entzifferung dieser Anfänge durch die Forschung der letzten Jahrhunderte. Da wimmelt es von Irrtümern, wissenschaftlichen Sackgassen, erbittert ausgetragenen Kontroversen – alles mit Quellenangaben und vieles mit anschaulichem Bildmaterial belegt.
Hält sich Kaube hier mit eigener Urteilskraft zunächst zurück, kommt er jedoch fast bei jedem „Anfang“auf einen doppelten Befund: Alle Anfänge lassen sich nicht etwa genau datieren, sondern haben sich über längere Zeiträume (anfangs über Hunderttausende von Jahren) aus dem vorherigen Zustand entwickelt. Nie gab es nur eine Ursache für diese „Quantensprünge“der Anthropologie. Viele Ursachen lassen sich nachweisen, noch mehr sind plausibel. Das wissenschaftlich untermauerte Spiel mit den möglichen Kausalketten gewährt einen wunderbaren Einblick in die Möglichkeiten dessen, was sich Menschen anhand von Funden und Befunden ausdenken können.
Unterwegs wird der nie ermüdende Leser um überraschende Details gebildeter: Wir alle kennen die biblische Geschichte von den Mauern von Jericho und den Posaunen, die sie zum Einsturz gebracht haben, alles etwa um 1200 v. Chr. Die Forschung ergab dagegen: „Damals hatte die am Jordan liegende Stadt gar keine Mauern – ja, Jericho scheint zur Zeit seiner angeblichen Eroberung nicht einmal bewohnt gewesen zu sein. Siebeneinhalbtausend Jahre zuvor, im Neolithikum, war es bewohnt. Und Jericho hatte eine Stadtmauer.“Die nächste Volte schlägt Kaube, wenn er nachweist, dass Jericho auch in dieser frühen Zeit keine „Stadt“in einem an anderer Stelle näher definierten Sinne war und die Siedlung die Mauer gegen Überschwemmungen, nicht zum Schutz vor Feinden errichtet hatte. Der Leser ist gut beraten, sich in Gedanken festzuhalten, um die Schwünge dieser Wissenschaftserzählung nachzuvollziehen. Jedenfalls wohnt ihr ein intellektueller Zauber inne und beglaubigt eindrucksvoll Hesses Vers.