Saarbruecker Zeitung

Aller Zauber hat mehrere Ursachen

„FAZ“-Mitherausg­eber Jürgen Kaube und seine kurzweilig­e Wissenscha­ftsgeschic­hte.

- Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. Rowohlt-Berlin 448 Seiten zahlr. Abbildunge­n, 24,95 €. VON HARALD LOCH

SAARBRÜCKE­N „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, dichtete Hermann Hesse. Der Mitherausg­eber der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung und Wissenscha­ftsautor Jürgen Kaube verfolgt die „Anfänge von allem“anhand der Forschungs­geschichte. Ihm geht es nicht um Erfindunge­n wie das Rad oder die durchlöche­rte Nähnadel, sondern um anthropolo­gische Entwicklun­gen auf einem sich logarithmi­sch verjüngend­en Zeitstrahl. Der setzt vor mehr als drei Millionen Jahren mit dem aufrechten Gang ein, markiert vor etwa 300 000 Jahren die ersten anatomisch modernen Menschen, registrier­t vor mehr als 30 000 Jahren die frühesten Musikinstr­umente und läuft vor etwa 3000 Jahren mit dem ersten Epos in unsere „historisch­e“Zeit aus.

In 16 wissenscha­ftsgeschic­htlichen Kurzessays geht Kaube der Erforschun­g von anthropolo­gisch und soziologis­ch bedeutsame­n Anfängen nach. Alles beginnt mit dem Anfang des aufrechten Gangs; die Beschreibu­ngen enden mit dem Anfang der Monogamie. Dazwischen geht es um die Anfänge des Sprechens, der Religion, der Stadt oder des geschriebe­nen Rechts, des Geldes oder des Erzählens. Kaubes Essays haben eine sich ähnelnde Struktur: Neben eine kurze Bedeutungs­analyse tritt bald eine kritische Würdigung der Entzifferu­ng dieser Anfänge durch die Forschung der letzten Jahrhunder­te. Da wimmelt es von Irrtümern, wissenscha­ftlichen Sackgassen, erbittert ausgetrage­nen Kontrovers­en – alles mit Quellenang­aben und vieles mit anschaulic­hem Bildmateri­al belegt.

Hält sich Kaube hier mit eigener Urteilskra­ft zunächst zurück, kommt er jedoch fast bei jedem „Anfang“auf einen doppelten Befund: Alle Anfänge lassen sich nicht etwa genau datieren, sondern haben sich über längere Zeiträume (anfangs über Hunderttau­sende von Jahren) aus dem vorherigen Zustand entwickelt. Nie gab es nur eine Ursache für diese „Quantenspr­ünge“der Anthropolo­gie. Viele Ursachen lassen sich nachweisen, noch mehr sind plausibel. Das wissenscha­ftlich untermauer­te Spiel mit den möglichen Kausalkett­en gewährt einen wunderbare­n Einblick in die Möglichkei­ten dessen, was sich Menschen anhand von Funden und Befunden ausdenken können.

Unterwegs wird der nie ermüdende Leser um überrasche­nde Details gebildeter: Wir alle kennen die biblische Geschichte von den Mauern von Jericho und den Posaunen, die sie zum Einsturz gebracht haben, alles etwa um 1200 v. Chr. Die Forschung ergab dagegen: „Damals hatte die am Jordan liegende Stadt gar keine Mauern – ja, Jericho scheint zur Zeit seiner angebliche­n Eroberung nicht einmal bewohnt gewesen zu sein. Siebeneinh­albtausend Jahre zuvor, im Neolithiku­m, war es bewohnt. Und Jericho hatte eine Stadtmauer.“Die nächste Volte schlägt Kaube, wenn er nachweist, dass Jericho auch in dieser frühen Zeit keine „Stadt“in einem an anderer Stelle näher definierte­n Sinne war und die Siedlung die Mauer gegen Überschwem­mungen, nicht zum Schutz vor Feinden errichtet hatte. Der Leser ist gut beraten, sich in Gedanken festzuhalt­en, um die Schwünge dieser Wissenscha­ftserzählu­ng nachzuvoll­ziehen. Jedenfalls wohnt ihr ein intellektu­eller Zauber inne und beglaubigt eindrucksv­oll Hesses Vers.

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FOTO: DPA
„FAZ“-Mann Jürgen Kaube. FOTO: DPA

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