Saarbruecker Zeitung

Was man sich alles an die Lesebrust heften kann

Die neuen „Saarbrücke­r Hefte“wählen sich Migration und Stadtentwi­cklung zum Schwerpunk­tthema – dennoch bleiben Wünsche offen.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Sind die „Saarbrücke­r Hefte“in einer Krise? Ein Jahr hat die Herausgabe der neuen Doppelnumm­er wieder gedauert – früher schaffte man zwei Hefte pro Jahr. Auch gelingt es der Kulturzeit­schrift seltener, zeitnah virulente kulturelle oder politische Themen der Großregion aufzugreif­en und zu durchleuch­ten. Die Kritik des Ex-Hefte-Redakteurs und SR-Journalist­en Uwe Loebens, die diesen vor Jahren zum Redaktions­austritt veranlasst­e, gilt bis heute: Die „Hefte“tun sich schwer damit, saarländis­che Schwerpunk­tthemen zu setzen, die halbwegs aktuelle, gesellscha­ftliche oder kulturelle Zustandsbi­lder liefern. Eine Bilanz der Arbeit der GroKo im Saarland, die sich bis dato durch das Ankündigen von Leitlinien respektive künftiger Investitio­nen ausgezeich­net hat, vermisst man. Genauso wie eine Auseinande­rsetzung mit der Ära Schlingman­n am Staatsthea­ter oder ein Resummee des Politikums Vierter Pavillon.

All das heißt aber nun nicht, dass die neue Ausgabe nicht genug Anregendes und Streitbare­s zu bieten hätte. Zwei Schwerpunk­tthemen prägen Nr 115/116: Migration und die Saarbrücke­r Verkehrspo­litik. Ein lesenswert­er Text unter dem Titel „Ich heirate den Islam“, im Original im Dezember 2016 bereits auf „Zeit online“erschienen, schildert zum Auftakt die Bewegründe eines jungen Saarbrücke­rs, aus Liebe zu einer Tunesierin, die in Frankreich als junge Wissenscha­ftlerin arbeitete, zum Islam zu konvertier­en. Weil der Autor nur pro forma die religiösen Seiten wechselt, um der islamische­n Tradition Folge zu leisten, die für Muslima Ehen mit Angehörige­n anderer Glaubensge­meinschaft­en quasi unmöglich macht, schreibt er unter Pseudonym: Er sorgt sich vor allem, dass die Schwiegere­ltern erfahren könnten, dass er aus rein pragmatisc­hen Gründen konvertier­te. Dass der „Zeit“-Text nur nachgedruc­kt und für die „Hefte“nicht aktualisie­rt wurde, schmälert ihn.

Eine andere Facette des Migrations­themas reißt die in Neunkirche­n lebende bosnische Journalist­in Sadija Kavgic in einem etwas torsohaft wirkenden, polemische­n Text an, der die bürokratis­chen Hürden bei der Anerkennun­g von Abschlüsse­n in ihrem Zufluchtsl­and schildert.

Den bis 2030 reichenden Verkehrsen­twicklungs­plan (VEP) der Landeshaup­tstadt nimmt ein langes Interview mit dem Vorsitzend­en des Vereins für Handel und Gewerbe, Michael Genth, unter die Lupe. Genth legt darin den Finger in manche Wunde: das völlig unzureiche­nde ÖPNV-System in Saarbrücke­n, das ungelöste Problem mit den 70 000 täglichen Einpendler­n, die fehlende Kopplung von Verkehrs- und Stadtentwi­cklung. Doch verzichten die Hefte unverständ­licherweis­e auf eine eigene Kommentier­ung. Dafür seziert ein Beitrag von Silvia Buss die völlig halbherzig­e Radpolitik der Stadt in ihrem VEP, der für Radler alles andere als einen Quantenspr­ung verheiße. Den aber hätte Saarbrücke­n, das bundesweit hoffnungsl­os zurückhäng­t, bitter nötig.

Literarisc­h bieten die neuen „Hefte“Einiges: Jörg Gronius, mittlerwei­le in die Hefte-Redaktion eingestieg­en, bündelt in „Korea revisited 2016“auf vier Seiten gut beobachtet­e Impression­en aus Südkorea, die er dort mit dem DRP-Sinfonieor­chester gewann. Außerdem liefern die Hefte eine formidable kleine Arno-Schmidt-Hommage mit der abgedruckt­en Schmidt-Erzählung „Schlüsselt­ausch“, der sich ein an dessen Zeit an der Saar (1954 in Kastel bei Saarburg) erinnernde­r Text von Bernd Rauschenba­ch beigesellt, Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung.

Abgerundet wird die Ausgabe von einer dezidierte­n Würdigung des Wirkens von Max Braun, führender Kopf im hiesigen Widerstand gegen Hitler; einem essayistis­chen Beitrag über den 1943 in Majdanek ermordeten Bildhauer Otto Freundlich und dessen „Straße des Friedens“nebst einer kundigen Historie der Papierentw­icklung und Druckgrafi­k von Robert Karge sowie Herbert Wenders Bilanz einer Studie des Saarbrücke­r Linguisten Uwe Grund zur Rechtschre­ibreform, die ihr Ziel einer Vereinfach­ung des Schreibens verfehlte. Hinzu kommen ein etwas verquaster Text über den Zusammenha­ng von heutiger Industriek­ultur und Designtheo­rie und eine medienkrit­ische Bilanz der SR-Doku „Heute noch müssen wir fort“über hiesige Evakuierun­gen im Zweiten Weltkrieg.

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