Nur das Rauschen der Wellen in den Ohren
Im Ostseebad Boltenhagen zwischen Lübeck und Wismar können Reisende am kilometerlangen Strand die Seele baumeln lassen.
BOLTENHAGEN/KLÜTZ Uwe Wetzke wirft schon am Nachmittag die Angeln auf der Seebrücke von Boltenhagen aus, die 290 Meter ins Meer ragt. Am Abend wäre es besser, denn die Touristen, die sich um diese Zeit eine sanfte Ostseebrise um die Nase wehen lassen, verjagen die scheuen Meerestiere. Fette Beute verspricht sich Wetzke daher nicht, wenn er auf Dorsch oder Scholle fischt. „Aber ich kann dabei prima entspannen.“
Runterkommen, abschalten, die Seele baumeln lassen. Dafür ist das Ostseebad Boltenhagen zwischen den Hansestädten Lübeck und Wismar als Teil der Touristenregion Klützer Winkel wie geschaffen. Alles ist auf Entschleunigung ausgerichtet. Fünf Kilometer lang ist der feinsandig helle Ostseestrand, der zum Wandern ohne Schuhe und Strümpfe einlädt.
Satt gluckern die Ostseewellen an den Strand. Der Horizont ist offen und weit. Landeinwärts steigt ein sanfter Deich auf, dahinter parallel zum Strand ein schmaler Promenadenweg – bestens geeignet für Radtouristen. Danach taucht der Besucher in einen weitläufigen Waldgürtel. Zwischen den geduckten Bäumen stehen, beinahe versteckt und in gebührendem Abstand voneinander, stattliche Häuser. Selten überragen deren Giebel die grüne Umgebung.
Endpunkt des Boltenhagener Meerespanoramas ist im Westen eine 35 Meter hohe Steilküste, deren Nase forsch in die Ostsee ragt. Sie belohnt den Besucher mit einem grandiosen Blick über die Bucht bis hin zur Insel Ploel und hinüber zum Marktflecken Klütz, der diesem Landstrich seinen Namen gibt. Im Osten ist es die Weiße Wiek mit Yacht- und Fischereihafen. Vier Fischer fahren mit ihren Kuttern von dort regelmäßig hinaus, um die Boltenhagener Restaurants mit frischem Dorsch, Steinbutt oder Scholle zu versorgen.
Uwe Dunkelmann ist einer von ihnen. Er nimmt als einziger Gäste mit, wenn er in See sticht und die Netze auswirft. Abends landet der Fang auf dem Teller in seinem Fischereihof Kamerun. Ansonsten starten vom Marina-Hafen Weiße Wiek Touristenschiffe wie die MS Seebär hinaus zu einer SeehundSandbank und zur Insel Poel.
Wie es sich für das zweitälteste deutsche Ostseebad nach Heiligendamm gehört, hat Boltenhagen selbstredend einen Kurpark – inklusive Wandelgängen, Konzertpavillon und Trinkkur-Halle. Begründet wurde die Boltenhagener Badetradition vom Reichsgrafen-Geschlecht derer von Bothmer, die im Jahr 1803 einen Badewagen an den Strand schieben ließen, diesem züchtig gekleidet entstiegen und in der Ostsee plätscherten.
Der Begründer dieser Adelssippe, Reichsgraf Hans Caspar von Bothmer (1656 bis 1732), gab sich allerdings nicht mit Geplätscher und Klein-Klein ab. Unweit von Boltenhagen ließ er im Klützer Winkel Anfang des 18. Jahrhunderts in nur sechs Jahren Schloss Bothmer erbauen, das heute wieder als Juwel barocker Backsteinarchitektur an der Ostsee gilt. Das SchlossEnsemble umfasst 14 Gebäude und Anbauten. Ein Wassergraben und ein System aus Lindenalleen umschließen noch immer die sieben Hektar große Schlossinsel. Der Park, der weite Teile dieser Fläche ausfüllt, wird bis heute so bepflanzt und gepflegt, dass er wie selbstverständlich als grüne Fortsetzung des Barockschlosses wahrgenommen wird. Dennoch hat die Fassade des Haupthauses etwas von einem englischen Landsitz.
Kein Wunder, denn der Schlossherr und Erbauer war Diplomat und stand als solcher mehr als 20 Jahre in Diensten des hannoverschen Kurfürsten Georg Ludwig – und zwar in London. Dort waren seine Strippenzieher-Qualitäten gefragt, denn sein Dienstherr war nicht nur Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, sondern ab 1714 zusätzlich König Georg I von Großbritannien. Dieser entlohnte von Bothmer fürstlich, sodass sich der Reichsgraf den Bau des Schlosses
Boltenhagen ist das zweitälteste Ostseebad in Mecklenburg. Es wurde 1803 zum Baden entdeckt.
für seine Familie leisten konnte. Er selbst hatte wenig davon, bekam das fertige Ensemble nie zu Gesicht. Vor zehn Jahren war Schloss Bothmer noch in einem beklagenswerten Zustand. In einem Kraftakt wurde die 37 Millionen Euro teure Sanierung gestemmt, sodass die Anlage seit 2015 wieder in altem Glanz erstrahlt. Heute können Touristen dort Musikkonzerten lauschen oder während einer Führung noch einmal in die Welt des 18. Jahrhunderts eintauchen.
Sehenswert ist auch das Städtchen Klütz. Als Verwaltungseinheit umfasst der Klützer Winkel sieben Gemeinden. Doch die Einheimischen sehen das nicht so eng. „Zum Klützer Winkel zählt alles, was man von der Spitze des Kirchturms von St. Marien aus sehen kann“, sagt Anja-Franziska Scharsich. Die Marienkirche stammt aus dem 13. Jahrhundert und steht auf der einzigen Erhebung der Stadt, der als Hügel gerade so durchgeht. Immerhin ist der Turm des gedrungenen Gotteshauses 56 Meter hoch. Scharsich ist eigentlich promovierte Literaturwissenschaftlerin und verwaltet als solche im „Literaturhaus Uwe Johnson“den Nachlass des Schriftstellers, der 1984 starb und keine 50 Jahre alt geworden ist.
Inzwischen zählt Johnson, der nach dem Krieg in beiden Teilen Deutschlands lebte und in England starb, zu den bedeutendsten deutschen Autoren der jüngeren Zeit. Zwei Etagen des Hauses, das einmal ein Getreidespeicher war, sind dem Verfasser der „Jahrestage“gewidmet. Entsprechend wird das Haus regelmäßig für Lesungen genutzt oder ist Anlaufstelle des Klützer Literatur-Sommers. Besucher, die solche offiziellen Sachen nicht so sehr mögen, können sich in die Bibliothek des Hauses zurückziehen und nach Herzenslust drei Dinge tun: Lesen, Lesen, Lesen.
Wer sich unter lebenden Künstlern wohler fühlt, ist im Kunst- und Kulturhaus „Alte Molkerei Klütz“bestens aufgehoben. 20 Frauen und Männer entwerfen und fertigen hier Ledertaschen, Mäntel, Bilder, Skulpturen und vieles mehr. Martina Peters verarbeitet zum Beispiel die Wolle ihrer eigenen Schafe zu Socken, Hausschuhen oder knuddelweichen Lämmern. „Man nennt mich hier nur die Spinnerin“, erzählt sie lächelnd.
Für geistige Getränke ist Johannes Volk zuständig. In seiner Destillerie brennt er Hochprozentiges vom feinsten, hat aber auch Säfte und Marmelade verschiedener Geschmacksrichtungen im Angebot. Mit dem nötigen Obst versorgt ihn der Küchengarten von Schloss Bothmer, den er gepachtet hat. Der Klützer Winkel hat also weit mehr zu bieten als Baden und Bummeln. Auch Schöngeister und Gourmets kommen hier auf ihre Kosten.