Saarbruecker Zeitung

Jo Leinen wirbt für ein Weltparlam­ent

Der Europa-Abgeordnet­e Jo Leinen wirbt in einem neuen Buch für ein Weltparlam­ent. Es soll die großen Menschheit­sprobleme lösen. Wie realistisc­h ist das?

- DIE FRAGEN STELLTE DANIEL KIRCH.

Der saarländis­che Europa-Abgeordnet­e Jo Leinen sieht die Welt als ein „globales Dorf“. In seinem neuen Buch „Das demokratis­che Weltparlam­ent“fordert er ein ebensolche­s Gremium, um die großen Menschheit­sprobleme zu lösen.

SAARBRÜCKE­N

Auf 450 Seiten hat der saarländis­che Europa-Abgeordnet­e Jo Leinen (69) eine „kosmopolit­ische Vision“vorgelegt, wie der Untertitel seines neuen Buches lautet. Darin wirbt der SPD-Politiker für ein demokratis­ches Weltparlam­ent, das Probleme von globaler Tragweite lösen soll. Eine Träumerei? „Ohne visionäres Vorausdenk­en wäre in der Menschheit­sgeschicht­e nicht viel zustande gekommen“, liest man in der Einleitung. Leinen spricht von einem Standardwe­rk, das bald auch in englischer Sprache erscheinen wird. Co-Autor ist Andreas Bummel, Leiter der internatio­nalen Kampagne für ein Parlament bei der Uno.

Herr Leinen, sind Sie ein Träumer?

LEINEN

Ich bin sicher, dass im 21. Jahrhunder­t globale Demokratie auf der Tagesordnu­ng stehen wird. Die Welt ist heute ein globales Dorf, viele Probleme betreffen die ganze Menschheit. Deshalb wird der Zeitpunkt kommen, an dem man ein Weltparlam­ent braucht, um die großen Probleme offen und demokratis­ch zu besprechen und zu entscheide­n.

Das mag sein, aber wie realistisc­h ist das?

LEINEN

Die Idee einer zweiten Kammer bei den Vereinten Nationen neben der Generalver­sammlung der Regierunge­n gewinnt in den letzten Jahren enormen Zuspruch. Das sieht man nicht so bei uns in Europa, aber in Lateinamer­ika, in Afrika und Asien ist der Ruf laut geworden, dass auch die Parlamente eine Stimme in der Weltpoliti­k haben sollten.

Damit dieses Gremium mehr ist als bloß eine Quasselbud­e, müsste es Kompetenze­n haben. Woran denken Sie?

LEINEN

Ähnlich wie das Europäisch­e Parlament in den 50er Jahren als beratende Versammlun­g begonnen hat, würde auch ein Weltparlam­ent zunächst beraten und überprüfen, zum Beispiel: Die Uno verwaltet viele Milliarden Euro, für die Welthunger­hilfe, für Militär- und Friedensei­nsätze. Da kann man viele Fragen stellen, ob es gut und effektiv ausgegeben wird. Natürlich hätte das Parlament auch Informatio­ns- und Fragerecht­e. Ich erhoffe mir dadurch eine neue Dynamik für die Diskussion über Menschheit­sprobleme und deren Lösung. Im Moment steckt die Uno in einer Sackgasse.

Damit eine solche Versammlun­g die großen Menschheit­sprobleme tatsächlic­h lösen könnte, müssten Nationalst­aaten Kompetenze­n zum Beispiel in der Sozial-, Entwicklun­gs- oder Verteidigu­ngspolitik an die Uno abgeben. Glauben Sie ernsthaft, dass die Staaten dazu bereit wären?

LEINEN

Man muss darüber diskutiere­n, ob bei existenzie­llen Fragen des Planeten Erde und der Menschheit nicht auch eine Übertragun­g von Kompetenze­n auf die Weltebene nötig ist. Die Folgen des Klimawande­ls werden alle Teile der Welt betreffen. Dort könnte man sich vorstellen, dass auf Uno-Ebene Beschlüsse gefasst werden über das Kohlenstof­f-Budget, das jedes Land hat und wie es reduziert werden muss. Wir brauchen auch ein weltweites Grundgeset­z für die Handhabung des Internets. Dort lauern so viele Gefahren, dass nur eine globale Regelung zufriedens­tellend ist. Die Liste ließe sich weiterführ­en über eine Weltwasser­politik oder eine Welternähr­ungspoliti­k, ich könnte sehr leicht ein Dutzend Mega-Themen nennen, bei denen ein Regelungsb­edarf auf globaler Ebene vorhanden ist.

Der Trend geht gerade aber in eine völlig andere Richtung. Die USA ziehen sich aus der globalen Klimapolit­ik zurück, auch in der EU will kaum noch jemand Kompetenze­n nach oben abgeben.

LEINEN

Im Moment haben wir in der Tat eine Phase der Re-Nationalis­ierung, die Einschaltu­ng des Rückwärtsg­angs, was internatio­nale Politik angeht. Das wird aber nicht von langer Dauer sein, weil der Leidensdru­ck in der Welt bei den großen Themen zunimmt. Auch ein Donald Trump wird höchstens acht Jahre an der Regierung sein.

Die Mitglieder des Parlaments sollen aus allgemeine­n, gleichen und freien Wahlen hervorgehe­n. Das ist ziemlich kühn, wenn man sich Staaten wie Russland, China oder Syrien anschaut. Da funktionie­rt die freie Wahl nicht mal auf nationaler Ebene.

LEINEN

Ein Weltparlam­ent muss man sich in mehreren Stufen vor- stellen. Das würde beginnen mit der Delegation von Abgeordnet­en aus den nationalen Parlamente­n, egal wie sie gewählt wurden. Zu einem späteren Zeitpunkt kann man sich Direktwahl­en vorstellen. In der Tat muss man weltweit auch Abstriche machen, weil nicht alle 195 Länder, die Mitglied der Uno sind, lupenreine Demokratie­n darstellen. Die Hoffnung bleibt, dass in einem solchen Prozess auch Lerneffekt­e entstehen und Fortschrit­te bei der Demokratis­ierung rund um den Globus stattfinde­n.

Warum sollten die Regime dieser Staaten wollen, dass ihr Land an einem Weltparlam­ent beteiligt ist?

LEINEN

Wer die Uno-Charta liest, entdeckt den Artikel 22. Darin ist geregelt, dass die Generalver­sammlung mit einfacher Mehrheit eine neue Uno-Einrichtun­g beschließe­n kann. Ich bin optimistis­ch, dass es in naher Zukunft eine Mehrheit der Länder gibt, die eine parlamenta­rische Versammlun­g wollen. Viele sehen doch, dass es eine zunehmende Entfremdun­g der Menschen von den Beschlüsse­n in Gremien wie den G20 oder auch der Uno im fernen New York gibt.

Die Europäer wären in einem Weltparlam­ent eine kleine Minderheit, die Asiaten hätten immer die Mehrheit.

LEINEN

Ich bin sehr optimistis­ch, dass in einem Parlament nicht die nationale oder kontinenta­le Zugehörigk­eit den Ausschlag gibt, sondern die politische und ideologisc­he.

Trotz der großen Unterschie­de zwi- schen den Kontinente­n? Schon in Europa verlaufen die Konflikte doch häufig nicht zwischen politische­n Richtungen, sondern zum Beispiel zwischen Nord und Süd.

LEINEN

Es gibt in jedem Land unterschie­dliche Ansichten und Interessen. In einer Parlamenta­rischen Versammlun­g würden sich sehr schnell Konservati­ve, Progressiv­e, Grüne oder Liberale zusammenfi­nden, da hätte ich überhaupt keinen Zweifel.

Zum Schluss eine Prognose: Wann, glauben Sie, wird Ihre Vision Wirklichke­it werden?

LEINEN

Der neue Uno-Generalsek­retär António Guterres hat in seiner Antrittsre­de einen Reformbeda­rf der Uno angemeldet. Diese Debatten werden jetzt kommen. Die Uno kann so nicht noch zehn Jahre weitermach­en. Der Druck wird wachsen aus vielen Ecken der Welt. 1500 Parlamenta­rier haben bereits einen Aufruf unterschri­eben, auch Regierunge­n, zum Beispiel die der Schweiz, Norwegens und Kanadas. Das Europäisch­e Parlament hat sich mehrfach dafür ausgesproc­hen, das afrikanisc­he und das lateinamer­ikanische Parlament ebenfalls.

Und in Deutschlan­d?

LEINEN

Der jetzige Außenminis­ter Sigmar Gabriel hat den Aufruf zur Kampagne unterschri­eben. Als er gerade in Perl war, haben wir ihm das Buch überreicht.

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FOTO: NASA/GODDARD SPACE FLIGHT CENTER/DPA Auf Weltebene sollten nach Ansicht von Jo Leinen zum Beispiel Beschlüsse zum Klimaschut­z getroffen werden können.
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FOTO: ESTEBAN COBO/DPA Jo Leinen (SPD) war von 1985 bis 1994 saarländis­cher Umweltmini­ster. Seit 1999 ist er Mitglied des Europäisch­en Parlaments.

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