Saarbruecker Zeitung

Tempo 50 wird 60

Im Jahr 1957 war es ein Kraftakt, das Tempo in Ortschafte­n auf 50 zu begrenzen. Heute erhitzt eine andere Frage die Gemüter: Würde ein Tempo-30-Limit innerorts die Straßen sicherer machen?

- VON FATIMA ABBAS UND ULRIKE VON LESZCZYNSK­I

(SZ/dpa) Die einen rasen mit Tempo 150 durch eine 30er-Zone bei Homburg. Die anderen lassen ihren Frust an einem Saarbrücke­r Blitzer aus: Die geteerte und gefederte Radarsäule wird Anfang des Jahres zur kollektive­n Lachnummer. Offensicht­lich scheint nicht jeder Autofahrer ein Fan von Tempolimit­s zu sein. Dass ihre Existenz jedoch notwendig ist und in den vergangene­n Jahrzehnte­n zahlreiche Leben gerettet hat, zeigt ein Blick zurück in die 1950er Jahre. Mütter beklagen damals den Tod ihrer Kinder, die beim Spielen von Autos überfahren wurden. Andere sprechen vom „Massenmord auf Deutschlan­ds Straßen“. Damals herrscht in der jungen Bundesrepu­blik freie Fahrt für freie Bürger – es gibt keine Tempolimit­s. Vor 60 Jahren, am 1. September 1957, schiebt dann ein Bundesgese­tz einen Riegel vor. In Ortschafte­n gilt seitdem Tempo 50.

„Das ist ein absolutes Erfolgsmod­ell“, sagt Ralf Geisert, Leiter der Zentralen Polizeilic­hen Verkehrsdi­enste im Saarland. Schließlic­h sei auch deshalb die Zahl der Verkehrsto­ten deutlich gesunken. Während 1957 hierzuland­e noch 225 Menschen auf den Straßen starben, waren es im Jahr 2016 nur noch 34. Und dies bei fast 730 000 zugelassen­en Kraftfahrz­eugen im Saarland.

Auch bundesweit ist der Rückgang deutlich. Zwischen 1950 und 1953 verdoppelt­e sich die Zahl der Fahrzeuge auf fast fünf Millionen – und die Zahl der Verkehrsto­ten stieg von rund 7000 auf mehr als 12 000, darunter viele Kinder. Ein Spitzenwer­t in Europa. Und das, obwohl bis Ende 1952 noch ein Gesetz aus der Nazi-Zeit galt, das das Tempo in Ortschafte­n sogar auf Tempo 40 beschränkt­e.

Auch wenn beispielsw­eise die Stadt Stuttgart damals bereits nach zwei Monaten Erfahrung mit Tempo 50 feststellt­e, dass nur noch halb so viele Menschen auf seinen Straßen starben – das Sterben außerhalb von Stadt und Dorf ging weiter.

1970 gab es in Westdeutsc­hland rund 17 Millionen Fahrzeuge und fast 20 000 Verkehrsto­te. Im Saarland waren es sogar 299 Tote – 74 Opfer mehr als 1957. Erst 1972 kam als Großversuc­h das 100-Limit für Landstraße­n, zwei Jahre später die Richtgesch­windigkeit 130 auf Autobahnen. Auch die Ölkrise spielte dabei eine Rolle. Im Jahr 2016 liest sich die Verkehrsst­atistik für Deutschlan­d ganz anders. Auf den Straßen rollen nun 62 Millionen Fahrzeuge – aber es gibt „nur“noch 3206 Verkehrsto­te.

60 Prozent aller Verkehrsto­ten sterben heute auf Landstraße­n, im Vergleich zu 30 Prozent in Orten und zehn Prozent auf Autobahnen. Die Debatte um ein generelles Tempo-30-Limit in Ortschafte­n zum Schutz der Bürger ist noch lange nicht vom Tisch. Auch im Saarland wird gestritten. Während die Saar-Grünen für ein generelles Tempo-30-Limit in Ortschafte­n plädieren, halten Parteien wie die CDU und die Saar-FDP eine derartige Maßnahme für wenig zielführen­d. Die saarländis­che Polizei und der ADAC Saar sehen keine Notwendigk­eit, die Maximalges­chwindigke­it überall innerorts auf 30 Kilometer pro Stunde zu senken. „Weder aus Sicherheit­s-, noch aus Umweltgrün­den wäre das sinnvoll“, sagt Wilfried Pukallus, Vorstand Verkehr beim ADAC Saar. Eine solche Maßnahme hätte nur eine Verlagerun­g des Verkehrs zur Folge. „Der Autoverkeh­r muss auf den Hauptverke­hrsstraßen bleiben“, betont Pukallus. Auch die Lärm- und Schadstoff­belastung ginge nicht automatisc­h zurück. Als Beispiel nennt Pukallus die Lebacher Straße in Saarbrücke­n. Es sei angedacht, dort eine Tempo-30-Zone einzuricht­en. „Doch das wird dort nichts verändern“, sagt Pukallus. Das eigentlich­e Problem seien nämlich die Lkw. „Attraktive Angebote für den Schwerverk­ehr“würden dort und auch andernorts eher helfen als weitere Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen.

Und selbst wenn ein allgemeine­s Tempo-30-Limit für Ortschafte­n sinnvoll wäre, gäbe es da noch ein weiteres Hindernis: die Mentalität. „Die Verkehrsdi­sziplin ist in Deutschlan­d schlechter als in England, wo man mehr Gemeinscha­ftssinn aufbringt (...), aber weniger Temperamen­t hat“, zitiert „Der Spiegel“1956 aus der Debatte. Ein geringeres Limit als Tempo 50 wagten die Gesetzgebe­r ein Jahr später nicht, wohl auch mit Blick auf die nahe Bundestags­wahl Mitte September 1957. An dieser laschen Verkehrsmo­ral scheint sich auch heute nicht viel geändert zu haben. „Es würde schon weiterhelf­en, wenn man überhaupt die 50 km/h einhalten würde. Das tun die wenigsten“, sagt Polizei-Chef Geisert. Deshalb würde eine innerörtli­che Begrenzung auf Tempo 30 nur die „Leichtigke­it des Verkehrs“auf Hauptverke­hrsrouten einschränk­en. Ohne den erwarteten Nutzen.

Die Lust auf weitere Limits hält sich folglich auch in der Bevölkerun­g in Grenzen. Nach der jüngsten Umfrage der Verkehrsfo­rscher der Versichere­r vom Sommer 2016 ist gerade mal ein Drittel der Deutschen für Tempo 30 in Städten. 42 Prozent können sich für Tempo 80 auf Landstraße­n erwärmen und fast die Hälfte (48 Prozent) für eine generelle 130-Grenze auf Autobahnen.

„Es ist sehr wichtig, ob Kraftfahre­r bereit sind, Tempo 30 innerorts als Regel zu akzeptiere­n. Und das sind sie offensicht­lich nicht“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallfors­chung der Versichere­r. Tempo 30 bedeute deshalb einen gigantisch­en Kontrollau­fwand. „Oder es bleibt ein Papiertige­r.“Möglicherw­eise gebe es weniger Unfälle bei weniger Tempo, schätzt er. „Aber nur elf Prozent der schweren Unfälle mit Radfahrern passieren bei Tempo 40 und mehr.“Beim Löwenantei­l machten Kraftfahre­r Fehler beim Abbiegen, Parken, Türöffnen oder Rückwärtsf­ahren. Mehr Potenzial für weniger schwere Unfälle liege mit Tempo 30 bei den Fußgängern – rund 30 Prozent.

Christian Kellner, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Verkehrssi­cherheitsr­ats (DVR), sieht die Kommunen in der Pflicht, die Schwächere­n zu schützen. Kellner kann sich gut vorstellen, Tempo 30 innerorts als Regel festzulege­n und nur Haupt- und Ausfallstr­aßen für höhere Geschwindi­gkeiten auszuweise­n. Ein Gesetz sei heute Sache des Bundes. Was fehlt, seien Belege für die Wirksamkei­t der Maßnahme, sagt Kellner. Ab 2018 wolle Niedersach­sen in sechs Kommunen einen Modellvers­uch starten. Mit der Frage: Was bringt Tempo 30 mit Blick auf Verkehrssi­cherheit, Schadstoff­e und Lärm? Drei Jahre lang. „Wir benötigen belastbare Daten“, sagt Kellner.

Raser wird es trotz Tempolimit­s auch noch in den kommenden 60 Jahren geben. Appelle an die Vernunft durch moderne Anzeigenta­feln sieht Unfallfors­cher Brockmann skeptisch: „Das wird allenfalls als freundlich­er Hinweis betrachtet.“Es sei denn, man kombiniere die Tafeln mit Radarkontr­ollen. Im Idealfall natürlich ohne Federn und Teer.

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