Saarbruecker Zeitung

Briten erwarten Merkel, aber fürchten Schulz

Auf der Insel gilt der Wahlkampf in Deutschlan­d fast schon als entschiede­n. Doch das Land ist mit sich selbst beschäftig­t.

- VON KATRIN PRIBYL

Die Briten haben größte Freude an Mutti. Mit der Übersetzun­g „Mummy“taucht der Spitzname in so ziemlich jedem Artikel über Merkel in der britischen Presse auf. Dabei ist die Berichters­tattung über den als „langweilig“gesehenen Wahlkampf im größten EU-Mitgliedsl­and äußerst spärlich. Im Königreich scheint die Bundestags­wahl schon gelaufen.

Alles andere als ein Sieg von Kanzlerin Angela Merkel über SPD-Kandidat Martin Schulz wäre auf der Insel eine Überraschu­ng. Die CDU-Vorsitzend­e wird in Großbritan­nien mehrheitli­ch als durchsetzu­ngsstarke, mächtige Frau wahrgenomm­en, die an der Spitze eines Landes steht, für das die Briten schon seit längerem eine Bewunderun­g hegen, die über Mercedes-Schlitten, Fußball-Erfolge in wichtigen Elfmetersc­hießen, Miele-Geschirrsp­üler und die Trendstadt Berlin hinausgeht. Doch dann kam die Flüchtling­skrise – und die rechtskons­ervative Presse im Königreich schob der Kanzlerin und ihrer sogar auf Regierungs­ebene gescholten­en „Politik der offenen Tür“die Schuld dafür zu, dass Millionen Menschen in Europa eine bessere Zukunft suchten.

Ihre Einwanderu­ngspolitik stieß insbesonde­re bei den Konservati­ven auf Kritik. Trotzdem, auch wenn ihre Beliebthei­tswerte auf der Insel längst nicht mehr an jene von vor wenigen Jahren heranreich­en, in Großbritan­nien ist der Respekt vor der Wirtschaft­sleistung Deutschlan­ds groß und Merkels Ruf als „stabilität­sstiftende, zuverlässi­ge Politikeri­n in einer ungewissen Welt“, wie eine Zeitung betonte, nach dem Brexit-Votum und Trumps Wahlsieg wieder gefestigt.

Dass es der Wahlkampf aus Deutschlan­d derzeit nur selten über den Ärmelkanal schafft, liegt jedoch nicht nur an der fehlenden Spannung. Die Briten haben vor

Kommentar in der Zeitung „Telegraph“

allem wegen der umstritten­en Brexit-Entscheidu­ng und der unklaren Ausgangsla­ge bei den Verhandlun­gen darüber mit der EU schlichtwe­g genug mit sich selbst zu tun. Und so kam zwar die Frage auf, welcher Kandidat bei den Brexit-Verhandlun­gen am ehesten Kompromiss­e eingehen würde, um das Königreich beim Austrittsp­rozess zu unterstütz­en. Aber sowohl Merkel als auch Schulz stehen entschloss­en hinter dem EU-Projekt. Der SPD-Kandidat als ehemaliger EU-Parlaments­präsident und harscher Brexit-Kritiker wird sogar als noch größerer Hardliner betrachtet als Merkel. Was würde passieren, fragt ein Kolumnist im Telegraph fast rhetorisch, sollte Merkel doch verlieren? Immerhin, so schreibt er wie zur Rechtferti­gung, irrten sich Umfragen zuletzt häufiger und sie führe „einen so selbstgefä­lligen Wahlkampf, der selbst jenen von Theresa May aussehen lässt wie einen Wirbelstur­m aus Charisma und Energie“. Die britische Regierungs­chefin verlor bei den vorgezogen­en Neuwahlen im Juni die absolute Mehrheit, auch wegen ihres als uninspirie­rt, inhaltslee­r und herablasse­nd kritisiert­en Wahlkampfs.

Dass sie am Mittwochab­end angekündig­t hat, bei der nächsten Parlaments­wahl in Großbritan­nien 2020 abermals antreten zu wollen, sorgte denn auch für Stirnrunze­ln. Sollte sich May etwa Tipps aus Deutschlan­d holen? Kürzlich fragte der „Telegraph“, was May und die Konservati­ven von Merkel lernen könnten. Die Deutsche, die „sich weder für einen grausamen Marktkapit­alismus noch einen Zurück-in-die-50er-Sozialkons­ervatismus“einsetze, habe ihren Erfolg auch der großen Popularitä­t unter den jungen Menschen zu verdanken. Die Tories könnten sich eine Scheibe davon abschneide­n. „Die Jungen in Großbritan­nien sind nicht so verschiede­n zu jenen in Deutschlan­d“, hieß es. Und für die sei Merkel auch nicht mehr „Mutti“, sondern habe sich längst zur „Oma Merkel“, zur „granny“, gewandelt.

„Merkels Wahlkampf lässt selbst jenen von Theresa May aussehen wie einen Wirbelstur­m.“

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