Die Fieberkurve der Empfindungen
Édouard Louis, Shootingstar der französischen Literatur, gelingt mit „Im Herzen der Gewalt“ein furioser Roman über die Folgen seiner Vergewaltigung.
SAARBRÜCKEN Gleich mit dem ersten Satz von Édouard Louis’ Roman stürzt man regelrecht hinein in dieses bemerkenswerte Buch. Es ist kein Zufall, dass das erste Wort darin „Und“heißt. Der Auftakt von „Im Herzen der Gewalt“hat etwas Atemloses. Als platzten wir in einen Monolog, in dem Louis erzählt, was ihm kurz zuvor widerfahren ist. Es war die Nacht des 24. Dezember 2012, in der der heute 24-jährige französische Schriftsteller in Paris auf dem Nachhauseweg zufällig einem Algerienfranzosen namens Reda begegnete, den er mit in seine Wohnung nahm, wo sie ausgiebig Sex hatten, ehe Reda ihm eröffnete, dass er ihn nun umbringen werde.
Die Geschehnisse hat sich Louis nicht ausgedacht, er hat sie erlitten. Erst strangulierte ihn der Unbekannte, mit dem er kurz zuvor noch eng umschlungen im Bett lag, dann zielte er mit einer Pistole auf ihn und vergewaltigte ihn. Louis’ Erzählung ist der Versuch, das Passierte zu verarbeiten. Seit seinem im Original 2014 erschienenen, auf andere Weise ebenso schonungslosen Debüt „Das Ende von Eddy“gilt der eigentlich Eddy Bellegueulle heißende Autor als Shootingstar der französischen Literatur. In „Das Ende von Eddy“hatte er seine Jugend als Homosexueller in einer miefigen Kleinstadt in der Picardie nachgezeichnet – all die Selbstverleugnungen und Demütigungen, die es bedeutete, in einer Unterschichtenfamilie aufzuwachsen, in der (nicht anders als in seinem bornierten Umfeld) Schwulsein als Krankheit galt. Schon hier erwies sich Louis, der damals bereits an der Pariser Sorbonne Soziologie studierte (interessanterweise bei Didier Eribon, mit dessen gefeierter Provinzabrechnung „Rückkehr nach Reims“Louis’ Debüt viel gemeinsam hat) als präziser Erzähler, der das eigene Leben wie eine Fallstudie beschreibt. Das gilt auch für „Im Herzen der Gewalt“. Allerdings gelingt ihm dort die Literarisierung der eigenen Existenz noch sehr viel prägnanter und stilistisch kunstvoller.
Nachdem ihn Freunde (darunter Eri bon, im Buch nur Didier genannt) dazu überreden, nach dem Mordversuch Anzeige zu erstatten, flieht Louis aus Paris zu seiner Schwester Clara in die gehasste alte Heimat, der er zwei Jahre zuvor den Rücken gekehrt hatte. Die Figur der Schwester wird zum maßgeblichen kompositorischen Hebel, mit dem es Louis gelingt, seine zwischen Selbstauflösung, Raserei, Wut, Verstummen und Apathie hin und her springende innere Verfassung vor Augen zu führen. Und die unüberwindlich erscheinende Schwierigkeit, hierfür Worte zu finden.
Alles ist ins Wanken geraten seit dieser Nacht, in der er Reda nach der Vergewaltigung durch einen Stoß in die Rippen kurz außer Gefecht setzen und hinausdrängen konnte. Als seien Innen und Außen, die eigenen Stimmen und die der anderen, seither nicht mehr länger unterscheidbar. Genauso wenig wie Phantasie und Realität. Clara wird gewissermaßen zum Medium des Autors: Im Roman lauscht Édouard hinter der nur angelehnten Tür, wie seine Schwester ihrem Mann erzählt, was dem Bruder passiert ist. Zugleich verschwimmen diese Passagen mit solchen, in denen das Erzähler-Ich Édouard die Fieberkurve seiner jeweiligen Empfindungen nachzeichnet. Und die Verwaltungstorturen, die in dem Augenblick einsetzen, als die Mühlen des Offiziellen zu mahlen beginnen: polizeiliche Verhöre, ärztliche Untersuchungen, kriminalistische Spurenermittlungen.
Auf diese Weise werden nach und nach die Zeitstränge vor- und zurückgespult oder ineinandergeschoben – und prallen etwa vergegenwärtigte Szenen der Liebesnacht mit Reda zusammen mit Nachbetrachtungen des „Falls“von Seiten Dritter. Auch bekommt Reda – der im wirklichen Leben bald verhaftet wurde und den Autor Édouard Louis später verklagt hat, weil er sich in dem Buch angeblich zu Unrecht als Vergewaltiger dargestellt sah, woraufhin Louis seine Anzeige zurückzog – im Roman eine Art Gesicht. Erzählt Louis doch, wie Reda als Ausländer in einem Wohnheim aufwuchs und selbst früh abgestempelt wurde. Man liest, wie er regelrecht in Schutz genommen wird von Louis – auch aus Angst, mit seiner Erzählung womöglich rassistischen Positionen Vorschub zu leisten. Weshalb Louis spekuliert, dass Reda ihn für sein Begehren „büßen lassen“wollte und ihn deshalb misshandelte.
Aus den Neuerscheinungen französischer Literatur zur Frankfurter Buchmesse, wo Frankreich diesmal Gastland sein wird, ragt dieser Roman schon jetzt heraus. In beneidenswerter Komplexität gelingt es ihm (auch dank Hinrich Schmidt-Henkels subtiler Übertragung), nicht nur mit großer Sprachwucht ein Lebenstrauma aufzufächern. Er schildert auch die Unmöglichkeit, im Fadenkreuz widerstreitender Versionen unsere Erinnerung zu objektivieren.
Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Aus dem Frz. von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 220 S., 20 €.