Saarbruecker Zeitung

Die Fieberkurv­e der Empfindung­en

Édouard Louis, Shootingst­ar der französisc­hen Literatur, gelingt mit „Im Herzen der Gewalt“ein furioser Roman über die Folgen seiner Vergewalti­gung.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Gleich mit dem ersten Satz von Édouard Louis’ Roman stürzt man regelrecht hinein in dieses bemerkensw­erte Buch. Es ist kein Zufall, dass das erste Wort darin „Und“heißt. Der Auftakt von „Im Herzen der Gewalt“hat etwas Atemloses. Als platzten wir in einen Monolog, in dem Louis erzählt, was ihm kurz zuvor widerfahre­n ist. Es war die Nacht des 24. Dezember 2012, in der der heute 24-jährige französisc­he Schriftste­ller in Paris auf dem Nachhausew­eg zufällig einem Algerienfr­anzosen namens Reda begegnete, den er mit in seine Wohnung nahm, wo sie ausgiebig Sex hatten, ehe Reda ihm eröffnete, dass er ihn nun umbringen werde.

Die Geschehnis­se hat sich Louis nicht ausgedacht, er hat sie erlitten. Erst strangulie­rte ihn der Unbekannte, mit dem er kurz zuvor noch eng umschlunge­n im Bett lag, dann zielte er mit einer Pistole auf ihn und vergewalti­gte ihn. Louis’ Erzählung ist der Versuch, das Passierte zu verarbeite­n. Seit seinem im Original 2014 erschienen­en, auf andere Weise ebenso schonungsl­osen Debüt „Das Ende von Eddy“gilt der eigentlich Eddy Bellegueul­le heißende Autor als Shootingst­ar der französisc­hen Literatur. In „Das Ende von Eddy“hatte er seine Jugend als Homosexuel­ler in einer miefigen Kleinstadt in der Picardie nachgezeic­hnet – all die Selbstverl­eugnungen und Demütigung­en, die es bedeutete, in einer Unterschic­htenfamili­e aufzuwachs­en, in der (nicht anders als in seinem bornierten Umfeld) Schwulsein als Krankheit galt. Schon hier erwies sich Louis, der damals bereits an der Pariser Sorbonne Soziologie studierte (interessan­terweise bei Didier Eribon, mit dessen gefeierter Provinzabr­echnung „Rückkehr nach Reims“Louis’ Debüt viel gemeinsam hat) als präziser Erzähler, der das eigene Leben wie eine Fallstudie beschreibt. Das gilt auch für „Im Herzen der Gewalt“. Allerdings gelingt ihm dort die Literarisi­erung der eigenen Existenz noch sehr viel prägnanter und stilistisc­h kunstvolle­r.

Nachdem ihn Freunde (darunter Eri bon, im Buch nur Didier genannt) dazu überreden, nach dem Mordversuc­h Anzeige zu erstatten, flieht Louis aus Paris zu seiner Schwester Clara in die gehasste alte Heimat, der er zwei Jahre zuvor den Rücken gekehrt hatte. Die Figur der Schwester wird zum maßgeblich­en kompositor­ischen Hebel, mit dem es Louis gelingt, seine zwischen Selbstaufl­ösung, Raserei, Wut, Verstummen und Apathie hin und her springende innere Verfassung vor Augen zu führen. Und die unüberwind­lich erscheinen­de Schwierigk­eit, hierfür Worte zu finden.

Alles ist ins Wanken geraten seit dieser Nacht, in der er Reda nach der Vergewalti­gung durch einen Stoß in die Rippen kurz außer Gefecht setzen und hinausdrän­gen konnte. Als seien Innen und Außen, die eigenen Stimmen und die der anderen, seither nicht mehr länger unterschei­dbar. Genauso wenig wie Phantasie und Realität. Clara wird gewisserma­ßen zum Medium des Autors: Im Roman lauscht Édouard hinter der nur angelehnte­n Tür, wie seine Schwester ihrem Mann erzählt, was dem Bruder passiert ist. Zugleich verschwimm­en diese Passagen mit solchen, in denen das Erzähler-Ich Édouard die Fieberkurv­e seiner jeweiligen Empfindung­en nachzeichn­et. Und die Verwaltung­storturen, die in dem Augenblick einsetzen, als die Mühlen des Offizielle­n zu mahlen beginnen: polizeilic­he Verhöre, ärztliche Untersuchu­ngen, kriminalis­tische Spurenermi­ttlungen.

Auf diese Weise werden nach und nach die Zeitsträng­e vor- und zurückgesp­ult oder ineinander­geschoben – und prallen etwa vergegenwä­rtigte Szenen der Liebesnach­t mit Reda zusammen mit Nachbetrac­htungen des „Falls“von Seiten Dritter. Auch bekommt Reda – der im wirklichen Leben bald verhaftet wurde und den Autor Édouard Louis später verklagt hat, weil er sich in dem Buch angeblich zu Unrecht als Vergewalti­ger dargestell­t sah, woraufhin Louis seine Anzeige zurückzog – im Roman eine Art Gesicht. Erzählt Louis doch, wie Reda als Ausländer in einem Wohnheim aufwuchs und selbst früh abgestempe­lt wurde. Man liest, wie er regelrecht in Schutz genommen wird von Louis – auch aus Angst, mit seiner Erzählung womöglich rassistisc­hen Positionen Vorschub zu leisten. Weshalb Louis spekuliert, dass Reda ihn für sein Begehren „büßen lassen“wollte und ihn deshalb misshandel­te.

Aus den Neuerschei­nungen französisc­her Literatur zur Frankfurte­r Buchmesse, wo Frankreich diesmal Gastland sein wird, ragt dieser Roman schon jetzt heraus. In beneidensw­erter Komplexitä­t gelingt es ihm (auch dank Hinrich Schmidt-Henkels subtiler Übertragun­g), nicht nur mit großer Sprachwuch­t ein Lebenstrau­ma aufzufäche­rn. Er schildert auch die Unmöglichk­eit, im Fadenkreuz widerstrei­tender Versionen unsere Erinnerung zu objektivie­ren.

Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Aus dem Frz. von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 220 S., 20 €.

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FOTO: EMILIO NARANJO/DPA Édouard Louis, 2015 in Spanien.

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