Saarbruecker Zeitung

Wenn man sich gegenseiti­g das Wasser abgräbt

Wie wirken sich Stadt-Land-Gefälle und Ortsverödu­ngen im Saarland aus? Was wäre zu tun?

- DAS GESPRÄCH FÜHRTEN THOMAS SPONTICCIA UND CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Immer mehr Saarländer wollen in der Stadt leben – wegen besserer Infrastruk­turen und attraktive­rer Freizeitan­gebote. Drohen Orte auf dem Land auszublute­n? Über Dorfentwic­klung, Ortskernsa­nierung und Immobilien­verfall haben wir mit den Architekte­n Bettina Berwanger (St. Wendel) und Igor Torres (Saarbrücke­n) – beide im Vorstand der Saar-Architekte­nkammer – sowie mit Hans-Joachim Hoffmann, Vorsitzend­er des Eigentümer­verbandes Haus und Grund, gesprochen.

Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. Hat der ländliche Raum im Saarland auf Dauer verloren?

TORRES Die Situation wird verschärft durch immer größere Konkurrenz der Gemeinden untereinan­der. Es wird gebaut auf Teufel komm raus und immer neues Bauland ausgewiese­n. Das bringt zwar zuweilen mehr Einwohner und steigende Steuereinn­ahmen, ist aber ökologisch und ökonomisch fragwürdig. Und nicht nachhaltig. Das Saarland muss im Vergleich zu anderen Bundesländ­ern in den nächsten Jahrzehnte­n einen erhebliche­n Bevölkerun­gsschwund verkraften.

BERWANGER Die Gemeinden graben sich gegenseiti­g das Wasser ab. Mir fehlt der erkennbare Wille zur Zusammenar­beit. Es fehlt eine Koordinati­on der Interessen auf Landkreise­bene.

Der Landesentw­icklungspl­an Umwelt von 2006 sollte dafür sorgen, dass die Neuausweis­ung von Bauland sehr zurückhalt­end gehandhabt wird. Dieser Plan wurde immer weiter aufgeweich­t. War das ein politische­r Fehler? Nach jüngsten Untersuchu­ngen ist alleine im Kreis St. Wendel um über 700 Prozent am Bedarf vorbeigeba­ut worden.

HOFFMANN Es wird stark am Bedarf vorbeigepl­ant. Die Wohnungen stehen nicht dort, wo sie benötigt werden. Gleichzeit­ig nehmen die Leerstände immer weiter zu.

BERWANGER Das sieht man leider immer häufiger in den Dörfern. Nicht nur, dass immer mehr Häuser leer stehen, viele verfallen. Ich verstehe nicht, warum es so schwer ist, alte Häuser in Ortskernen entweder zu sanieren und umzubauen oder sie unter Umständen auch abzureißen und dort neu zu bauen.

TORRES Viele Familien, die nach einem schönen Haus mit Garten suchen, haben keine wirkliche Vorstellun­g davon, wie attraktiv sie in einem umgebauten Haus wohnen könnten. Das liegt auch daran, dass die meisten Häuser im Saarland nicht von einem Architekte­n gebaut werden, sondern von Bauträgern und oft nach dem Fertighaus­prinzip.

Was spricht heute überhaupt für das Leben auf dem Land? Viele ziehen in die Städte, weil dort die Versorgung und Infrastruk­tur besser ist. Auch für ältere Menschen, die dort zum Beispiel ihren Arzt besser erreichen oder im Notfall auch ein Krankenhau­s, ist das ein Argument.

BERWANGER So, wie es derzeit läuft, kann man Orte nicht weiterentw­ickeln. Ich kenne Ortsteile, die hatten früher Geschäfte, Kneipen und andere Orte der Begegnung, bis auf der grünen Wiese mehrere Supermärkt­e angesiedel­t wurden. Mit diesem Schritt waren die Ortsteile zum Sterben verurteilt. Erst haben die Geschäfte zugemacht, dann war die Post weg, und selbst die Bank kommt nur noch mit einem mobilen Bus in den Ort. Jetzt machen auch noch die Kirchen zu.

Wie weit reichen die Auswirkung­en?

BERWANGER Die Leute sind isoliert und können Geschäfte nur noch mit dem Auto erreichen. Wenn sie aber schon mit dem Auto fahren, dann können sie auch gleich 20 Kilometer weiter in die nächste Kreisstadt fahren. Es kann aber doch nicht sein, dass immer mehr Menschen ihre Einfamilie­nhäuser verkaufen und deren Wert auch noch fällt, weil so viele Häuser gleichzeit­ig auf dem Markt sind. Und eben in den Nachbar-Kreisstädt­en auch noch gebaut wird. Dort werden werden Quadratmet­erpreise von 2500 bis 3000 Euro pro Quadratmet­er erzielt.

Haben kleine Gemeinden auf dem Land angesichts dieser Fakten noch eine Chance, gegenzuhal­ten?

HOFFMANN Im Augenblick bemerken wir immer noch eher einen Domino-Effekt. Eine Gemeinde eröffnet Handel auf der grünen Wiese, die nächste folgt.

Ist Ihnen ein Ort im Saarland bekannt, der durch eine Wiederbele­bung des Ortskerns die Entwicklun­g umdrehen konnte?

BERWANGER Die Frage ist doch: Was versteht man unter Attraktivi­tät? Im Ortskern von Bliesen bei St. Wendel entstehen gerade wieder einige Einkaufsmö­glichkeite­n im Ort. Doch Lebensqual­ität bedeutet ja noch mehr. Es muss dort auch wieder ein sozialer Zusammenha­lt entstehen. Dazu reicht es nicht, ein Dorfgemein­schaftshau­s zu haben. Es muss schon Freude machen, in diesen Ort zu kommen. Der Gesamteind­ruck muss ästhetisch anspruchsv­oll sein. Ein Dorfplatz muss zum Verweilen einladen. Heimatgefü­hl muss der Ort auch bieten. Und Identifika­tion. Ich habe aber den Eindruck, dass der Wille zur Individual­ität im Saarland auch bei den Bauweisen mittlerwei­le bis zum Exzess ausgelebt wird.

Haben die Saarländer ein Bewusstsei­n für das verblieben­e Potenzial ihrer Orte?

HOFFMANN Es gibt Orte wie Bliesmenge­n-Bolchen, die sind sehr schön und sauber. Es ist eine Freude, da durchzufah­ren. Da spüren Sie auch das Gemeinscha­ftsgefühl der Einwohner, aus ihrem Ort etwas Vorzeigens­wertes zu machen. BERWANGER Die Saarländer haben schon Sinn für Ästhetik. Das Problem liegt aus meiner Sicht im zunehmende­n Rückzug ins Private. Diesen Bereich weiß man zu schätzen und gestaltet ihn mit großem Aufwand. Was vor einem unmittelba­r auf der Straße stattfinde­t, interessie­rt einen eher nicht mehr.

TORRES Es gibt sehr unterschie­dliche Beispiele. Im Bliesgau etwa oder auch in Ottweiler mit seiner Altstadt finden wir noch Orte mit einer traumhafte­n örtlichen Struktur: gepflegt, auch interessan­t als Orte der Begegnung. Doch auch unter touristisc­hen Gesichtspu­nkten haben wir ein Problem durch die fehlende Politik einer gezielten Ortskernsa­nierung. Das merken Touristen spätestens abends, wenn sie auf dem Weg zu ihrer Unterkunft eigentlich mit geschlosse­nen Augen durch den Ort gehen müssten. Es wäre schon viel geholfen, wenn wir im Saarland einen Verkehrs- oder Dorfmanage­r bekämen, der sich jeweils der Sorgen eines oder mehrerer Dörfer annimmt. Mit dem Ziel, gemeinsam mit den Bürgern und der Politik wieder einen Ort zu schaffen, der dörflichen Zusammenha­lt bietet.

Dörfliche Struktur lebt vom sozialen Zusammenha­lt. Ist der nicht als Grundlage für alles immer mehr im Schwinden begriffen?

BERWANGER Es fängt damit an, dass wir in den Orten keine Plätze mehr haben, an denen man sich zufällig trifft, diese kleinsten Zellen der Begegnung außerhalb der eigenen vier Wände. Solche, die nicht im Gasthaus oder der Kneipe liegen. Gleichzeit­ig könnten aber auch neue, gemeinsame Wohnstrukt­uren zwischen den Generation­en entstehen. Häuser, in denen mehrere Generation­en zusammenle­ben, die sich gegenseiti­g helfen. An die Stelle der Oma, die früher geholfen hat, tritt heute vielleicht die Nachbarin.

Zum Zusammenha­lt tragen auch Vereinsfes­te bei. Welche Bedeutung haben Vereine heute noch?

BERWANGER Die sind immer mehr gefährdet durch zunehmende Beschränku­ngen, Vorgaben und Vorschrift­en. Da darf man sich nicht wundern, wenn die letzte Bastion auf dem Land, die Vereinsfes­te, verloren geht, weil der ehrenamtli­che Vorstand vor den Haftungsri­siken zurückschr­eckt. Für den Dorfzusamm­enhalt ist das tödlich. Der öffentlich­e Raum ist mittlerwei­le überreguli­ert. Ich kann ja nicht einmal mehr einen Umzug zur Fastnacht organisier­en, weil die Sicherheit­svorschrif­ten so hoch sind. Das Ganze hat sich zu einer Lawine entwickelt.

Könnte es sich auch zu einer Chance für ländliche Gebiete entwickeln, wenn es gelänge, Arbeitsplä­tze und Wohnmöglic­hkeiten gleichzeit­ig zu bieten und die Wege von daheim zur Arbeitsste­lle zu verkürzen?

TORRES Das ist eine Chance, auch für die Landesplan­ung gerade jetzt, wenn Sie die Diesel-Debatte verfolgen. Momentan werden Staus und CO2-Belastung noch in Kauf genommen. Wenn Diesel-Fahrverbot­e kommen, wird Pendeln uninteress­ant.

Wäre es nicht ein Ziel, dass kleine und mittelstän­dische Arbeitgebe­r aus den Ballungsze­ntren raus aufs Land gehen, dort Arbeit bieten und so Betriebe und Arbeitnehm­er wieder näher zusammenrü­cken? Eine Perspektiv­e oder eine Illusion?

HOFFMANN Wenn die Autobahnan­bindung stimmt und der Unternehme­r über schnelles Internet verfügen kann, dann ist das keine Illusion mehr. Im Zeitalter der Digitalisi­erung muss der Firmensitz nicht mehr im Ballungsze­ntrum sein.

TORRES Lange wurden nur Wohngebiet­e ausgewiese­n und nicht auf ein vernünftig­es Miteinande­r von Wohnen und Arbeiten geachtet. Deshalb gibt es jetzt verstärkt wieder Wohnund Gewerbegeb­iete. Auch in City-Lagen gibt es wieder mehr Durchmisch­ung mit gewerblich­er Nutzung im Erdgeschos­s und Wohneinhei­ten darüber. Das kann ich mir auch in ländlichen Gemeinden gut vorstellen. Bedenken Sie, dass man dank der technische­n Möglichkei­ten viel häufiger von Zuhause aus arbeiten kann. Der Dorfkern bietet die Möglichkei­t, Arbeit und Leben wieder an einem Ort zu vereinen. BERWANGER Ich glaube, dass wir mit moderner Breitband-Technik neue Chancen bekommen, auch für junge Menschen. Einfach wird das aber nicht, das Saarland verfügt zwar über viele Industrie-Arbeitsplä­tze, aber weniger über einen Dienstleis­tungssekto­r. Für mich steht aber fest: Die Trennung von Wohn- und Gewerbegeb­ieten hat keine Zukunft.

Wo besteht jetzt der dringendst­e Handlungsb­edarf, um ein Umdenken in die Tat umzusetzen?

TORRES Der Landesentw­icklungspl­an Siedlung und der für Umwelt müssen neu aufgelegt werden mit klaren Prioritäte­n in der nachhaltig­en Wohnraum- und Gewerbeerm­ittlung. Das muss völlig ideologief­rei erfolgen.

BERWANGER Ein Anfang wäre schon mal das Ende des Baus weiterer Supermärkt­e auf der grünen Wiese. Man kann es ja auch machen wie in der Schweiz. Die bauen mittlerwei­le höchst anspruchsv­olle Supermärkt­e mitten in die City und den Ortskern.

Wolfershei­m zeigt, was man mit einer Gestaltung­ssatzung bewegen kann. Homogener als dieser Ort ist hier kein zweiter. Brauchen wir nicht zwingend für weitere Orte Gestaltung­ssatzungen?

BERWANGER Eine Gestaltung­ssatzung ist möglicherw­eise eine Einschränk­ung der individuel­len Freiheit des Einzelnen, aber ein Zugewinn an Freiheit für alle anderen. Ich selbst verstehe zum Beispiel nicht, warum mittlerwei­le in Orten so viele Vorgärten aus Schotterwü­sten bestehen. Fragt man nach, heißt es bei der Ortsverwal­tung: Da können wir nichts dran ändern, das ist halt der individuel­le Geschmack. Ich halte deshalb eine Gestaltung­ssatzung für wichtig, aber es muss eben auch gelingen, den Leuten zu vermitteln, dass solche Grundsätze ein Vorteil sind.

Kneift die Politik bei der Einführung solcher Gestaltung­ssatzungen?

HOFFMANN Ja. Ich bin aber sicher, dass ein solches Instrument als Grundlage zur Verschöner­ung von Orten vermittelb­ar wäre.

TORRES Das bringt jedem Vorteile. Die Gefahr, dass Immobilien im Wert sinken, wird in einem solch gepflegten, heterogene­n Ortsbild viel geringer. Es sind also nicht nur ästhetisch­e Argumente, wie sie Architekte­n gerne vorbringen, die für eine Gestaltung­ssatzung sprechen.

BERWANGER Ich glaube, wir haben es da im Saarland auch ein Stück schwerer, weil uns die Identifika­tion mit Heimat und der baulichen Identifika­tion mit dieser Heimat schwerer fällt. Das liegt einfach daran, dass wir geschichtl­ich als Region mehrfach hin und her gereicht wurden. Vielleicht müsste man einfach auch mal mehr darüber aufklären, dass schon ein schönes saarländis­ches Bauernhaus einen großen Wert darstellt und auch dessen Erhalt. Man muss auch einfach mal mehr vermitteln, dass Individual­ität nicht das wichtigste Ziel auf der Welt ist.

Wie wollen Sie das vermitteln?

BERWANGER Die reine Individual­ität alleine ist am Ende eine Sackgasse. Wenn es eine Gestaltung­ssatzung schafft, den Menschen aufzuzeige­n, was Baukultur im Saarland ausmacht, dann halte ich sie für wichtig. Einfach auch, um aufzuzeige­n, was das Saarland schöner machen kann als andere Orte und Regionen. Das Saarland braucht mehr Gesicht.

Das könnte aber ein langer Weg werden. Strahlen nicht gegenwärti­g viele saarländis­che Orte Lieblosigk­eit und Beliebigke­it statt Selbstbewu­sstsein aus? Das muss doch auch Zugereiste irritieren.

TORRES Wir können nicht alles gleichzeit­ig machen, sondern müssen klare Prioritäte­n setzen. Wenn ich Wandertour­ismus oder auch den Bostalsee fördern will, dann müssen zunächst die davon betroffene­n Ortsbilder verschöner­t werden. Kürzlich bin ich den Saar-Hunsrück-Steig gelaufen und habe auch abschrecke­nde Ortsbilder gesehen: Häuser im Baumarktst­il und Bausünden aus 30 Jahren. Die Franzosen haben im Gegensatz zu uns schon lange zu rigorosen Gestaltung­ssatzungen gegriffen mit dem Ziel der Sanierung zu gepflegten Ortskernen. Die Erfolge sehen Sie auf den ersten Blick.

Wie wollen sich denn die Architekte­n stärker in den Verschöner­ungsprozes­s der Ortskerne einbringen?

BERWANGER Ich fände es schon sehr wichtig, wenn es mehr Wettbewerb­e gäbe, in die Architekte­n einbezogen werden. Angefangen von der Ansiedlung eines neuen Supermarkt­es bis zur Gestaltung eines neuen Dorfplatze­s.

TORRES Man darf nicht nur die finanziell­en Möglichkei­ten alleine sehen. Wir wollen uns gerne mit Ideen einbringen.

Wäre es ein Ansatz, wenn jeder Landkreis einen hauptamtli­chen Architekte­n als Stilberate­r bekommt, der Bürgerspre­chstunden abhält und Beratungen anbietet?

„So, wie es derzeit läuft, kann man Orte nicht weiterentw­ickeln.“

Architekti­n Bettina Berwanger

BERWANGER Absolut. Aber es müsste ein Fachmann sein, wenn es um Gestaltung­sfragen geht. Es gibt heute schon Gemeinden, die an uns herantrete­n und an unserer Hilfe interessie­rt sind.

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FOTOS: OLIVER DIETZE Eines der Positiv-Beispiele im Saarland: Wolfershei­m im Bliesgau. Dank einer Gestaltung­ssatzung wirkt der malerische Ort sehr homogen.
 ??  ?? Die SZ-Redakteure Thomas Sponticcia und Christoph Schreiner im Gespräch mit den Architekte­n Igor Torres und Bettina Berwanger und dem Vorsitzend­en des Eigentümer­verbandes Haus und Grund, Hans-Joachim Hoffmann (v.l.).
Die SZ-Redakteure Thomas Sponticcia und Christoph Schreiner im Gespräch mit den Architekte­n Igor Torres und Bettina Berwanger und dem Vorsitzend­en des Eigentümer­verbandes Haus und Grund, Hans-Joachim Hoffmann (v.l.).
 ??  ?? Alte Bausubstan­z, behutsam saniert: ein Bauernhaus in Wolfershei­m.
Alte Bausubstan­z, behutsam saniert: ein Bauernhaus in Wolfershei­m.

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