Saarbruecker Zeitung

Schlappe für Ungarn und die Slowakei

Der Europäisch­e Gerichtsho­f verdonnert die Länder zur Aufnahme von Flüchtling­en. Die Kommission droht nun auch Polen und Tschechien.

- VON MARINE LAOUCHEZ

BRÜSSEL (afp) Für Viktor Orbán ist es eine schwere Woche. Gestern bestätigte der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) den im September 2015 per Mehrheit und gegen den Willen von Ungarn, Tschechien, Rumänien und der Slowakei getroffene­n Entschluss, 120 000 Flüchtling­e aus Griechenla­nd und Italien auf andere Mitgliedst­aaten umzuvertei­len. Ungarn hatte dagegen gemeinsam mit der Slowakei und dem Beistand von Polen geklagt – unter dem Verweis auf angebliche Verfahrens­fehler und der Behauptung, die Umsiedlung sei nicht geeignet, um der Flüchtling­skrise etwas entgegenzu­setzen. Die Richter waren jedoch anderer Meinung. Denn Artikel 78 des Lissabon-Vertrags (das Regelwerk der EU) ist eindeutig: „Befindet sich ein Mitgliedst­aat aufgrund eines plötzliche­n Zustroms von Drittstaat­sangehörig­en in einer Notlage, so kann der Rat (das Gremium der Mitgliedst­aaten, Anmerkung der Redaktion) vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffend­en“EU-Länder erlassen, heißt es darin. Weder seien die Innenminis­ter dazu verpflicht­et, „den angefochte­nen Beschluss einstimmig anzunehmen“, noch handle es sich dabei um eine wirkungslo­se Maßnahme, betonte der EuGH: Vielmehr ließe sich die „geringe Zahl“der bislang umverteilt­en Flüchtling­e auf mehrere damals nicht vorhersehb­are Faktoren zurückführ­en – „darunter die mangelnde Kooperatio­n bestimmter Mitgliedst­aaten“.

Deutlicher hätte der Richterspr­uch aus Luxemburg kaum ausfallen können – und er stärkt der EU-Kommission den Rücken, die bereits im Juni gegen Polen, Tschechien und Ungarn ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eingeleite­t hat. Der Grund: Alle drei Länder haben bislang entgegen der Vereinbaru­ng keinen einzigen Flüchtling bei sich aufgenomme­n – die Slowakei gerade einmal 16 Menschen. Insgesamt fällt die Statistik aber auch für die übrigen Mitgliedst­aaten dürftig aus. Migrations­kommissar Dimitris Avramopoul­os bemühte sich gestern, die bisher 27 695 in andere EU-Länder umgesiedel­ten Asylsuchen­den als Erfolg zu verkaufen. Dabei müssen nach einem bereits im Juni 2015 getroffene­n Beschluss der Staats- und Regierungs­chefs und der Entscheidu­ng vom September insgesamt 160 000 Menschen aus Griechenla­nd und Italien in anderen EU-Ländern aufgenomme­n werden. Innerhalb von zwei Jahren sollte das eigentlich geschehen.

Trotz der Verweigeru­ngshaltung Ungarns hatte Orbán in der vergangene­n Woche in einem Schreiben an Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker ausgerechn­et um mehr Solidaritä­t der EU gebeten – und zwar in Form von 400 Millionen Euro, um Budapest für den Bau seines Grenzzauns zu entschädig­en. In seiner Antwort vom Dienstag zerfetzte der Behördench­ef die Anfrage buchstäbli­ch in der Luft. „Solidaritä­t ist eine Zweibahnst­raße, kein Menü à la carte“, schrieb Juncker darin. Stattdesse­n

„Solidaritä­t ist eine Zweibahnst­raße, kein Menü à la carte.“

Jean-Claude Juncker

EU-Kommission­spräsident

habe Ungarn sich dafür entschiede­n, die ursprüngli­ch auch diesem Land angebotene Umverteilu­ng (von bis zu 54 000 Flüchtling­en) auszuschla­gen und damit auch die zugehörige­n EU-Hilfsgelde­r über vier Millionen Euro. Deshalb entschiede­n die übrigen Mitgliedst­aaten, dass Ungarn wie alle anderen (außer Großbritan­nien und Dänemark, die Sonderkond­itionen besitzen) Asylsuchen­de aufnehmen muss.

Darüber hinaus zur Verfügung gestellte Nothilfen nutzte Ungarn dagegen kaum – von 6,26 Millionen Euro, die 2014 und 2015 aus dem Nothilfefo­nds der Gemeinscha­ft bereitstan­den, beanspruch­te Budapest laut EU-Kommission nur 33 Prozent. Darüber hinaus bekam Ungarn aus einem bis 2020 laufenden Fonds für innere Sicherheit 40 Millionen Euro. Ohnehin ist Ungarn der „achtgrößte Empfänger des Europäisch­en Struktur- und Investment­fonds“(Efsi), wonach 25 Milliarden Euro in wirtschaft­liche Projekte des osteuropäi­schen Staats fließen sollen – dies entspricht drei Prozent der Jahreswirt­schaftslei­stung Ungarns und damit mehr, als jeder andere Mitgliedst­aat aus dem Investitio­nsfonds erhält. Über mangelnde Unterstütz­ung kann sich Orbán also eigentlich nicht beklagen. Die EU hingegen schon.

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FOTO: GAVLAK/DPA Ih re Klage gegen die Flüc h tlingsau f nah m e wu rde abgewiesen: Ungarns Prem ierm inister Viktor Orbán (l.) u nd der slowakisc h e Regieru ngsc h ef Robert Fic o – h ier bei einem Tref f en in Bratislawa.

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