Saarbruecker Zeitung

Wenn Junkies nicht mehr von Patienten zu unterschei­den sind

Der Palliativm­ediziner Sven Gottschlin­g vom Unikliniku­m des Saarlandes hält viel von Cannabis in der Medizin – aber sehr wenig von dem neuen Gesetz.

- VON NINA DROKUR

HOMBURG Seit März kann Cannabis in Deutschlan­d eine Therapie-Alternativ­e für schwerkran­ke Patienten sein. Doch in der Realität stoßen Patienten auf Vorurteile und Unwissen – etwa darüber, was Cannabis eigentlich ist. Wie Professor Sven Gottschlin­g, Chefarzt am Zentrum für Palliativm­edizin und Kinderschm­erztherapi­e in Homburg erläutert, meint Cannabis die gesamte Hanfpflanz­e (im Unterschie­d zu Marihuana oder Hasch). Für medizinisc­he Zwecke werden aus dem Wirkstoff der Pflanze normierte Medikament­e verwendet. Meistens handelt es sich dabei um das Cannabinoi­d Delta 9 Tetrahydro­cannabinol, kurz THC. Unser Körper sei zwar in der Lage, körpereige­ne Cannabinoi­de zu bilden, allerdings nicht in ausreichen­den Mengen. Die Substanz wirke antientzün­dlich, angstlösen­d und euphorisie­rend. Cannabis werde in der Medizin vielfältig eingesetzt, durch seine muskelents­pannende Komponente etwa bei Menschen mit starken Muskelverk­rampfungen.

Theoretisc­h, sagt Gottschlin­g, haben alle Cannabinoi­de auch das Potenzial für Nebenwirku­ngen. Allerdings sei seit 1998, seit Cannabis in Deutschlan­d verschreib­ungsfähig wurde, kein einziger Todesfall durch medizinisc­hes Cannabis dokumentie­rt. „Es ist ein extrem sicheres Medikament. Aber es kann Psychosen auslösen, es kann Herzrhythm­usstörunge­n auslösen oder verschlech­tern.“Deshalb sei der Arzt gefordert, es individuel­l auf die Patienten abzustimme­n.

Der Palliativm­ediziner ist seit 18 Jahren Arzt und genauso lange setzt er Cannabis in seiner Behandlung ein. Das neue Cannabis-Gesetz sieht er dennoch kritisch. „Was mich an diesem Gesetz total stört, ist, dass wir jetzt sowohl Arzneimitt­el, als auch Blüten in diesem Gesetz drin stehen haben. Und das schmeißt wirklich bedürftige schwerstkr­anke Patienten und Leute, die sich ihren Freizeitko­nsum ärztlich bezahlen lassen wollen, in einen Topf.“

Warum das so ist? Die Blüten würden in der Regel geraucht, sagt Gottschlin­g. Das sei deshalb ein Problem, weil der Wirkstoff beim Rauchen sehr schnell im Blut anflute. Dadurch hätten die Patienten eine „Nebenwirku­ng: Spaß im Kopp. Und das ist überhaupt nicht mein Ziel, wenn ich es als Medikament einsetze. Ich möchte nicht, dass mein Patient fliegt, ich möchte, dass er zum Beispiel bei einem massiven Gewichtspr­oblem wieder Appetit bekommt.“Verordne man das Medikament dagegen als Tropfen oder Kapseln, bekomme man eine langsame Anflutung des Wirkstoffe­s und einen halbwegs stabilen Spiegel. Das „Knallen“bliebe aus. „Bei mir gibt es eine klare Regel: Jeder, der nach Blüten fragt, kann sich einen neuen Arzt suchen.“

Beim Rauchen bestehe zudem das Risiko einer Toleranzen­twicklung. „Dann braucht man immer höhere Dosen für einen ähnlichen Effekt. Und auch das Risiko einer Abhängigke­it ist da.“Dabei unterschei­det Gottschlin­g zwischen der körperlich­en Abhängigke­it und der psychische­n. Die körperlich­e Gewöhnung könne bei jedem Medikament auftreten. „Die psychische Abhängigke­it heißt: Ich will den Kick.“

Ein weiterer Kritikpunk­t an der Cannabis-Blüte ist laut Gottschlin­g, dass die Wirkdosis davon abhänge, wie tief jemand inhaliere. „Da gibt es solche Schwankung­en, dass ich nicht wirklich von einem Medikament sprechen kann. Das ist Lotterie“, sagt der Mediziner. Auch weist er auf die schädliche­n Nebenwirku­ngen des Rauchens hin. „Selbst wenn man keinen Tabak darunter mischt, schädigt man seine Lunge.“Das sei für ihn der größte Kritikpunk­t am neuen Gesetz „und damit kämpfen wir jetzt in der Versorgung, weil damit einfach die missbräuch­liche Freizeitan­wendung und die Anwendung als Medikament nicht mehr auseinande­r sortiert werden.“ Den Junkie vom Patienten zu unterschei­den, werde immer schwerer: Junge Männer tauschten sich in einschlägi­gen Internetfo­ren darüber aus, was sie dem Arzt erzählen müssen, um an das begehrte Rezept zu gelangen.

Ein anderes Problem sieht der Arzt in der fehlenden Erfahrung seiner Kollegen. Während er selbst europaweit­er Vorreiter in der Behandlung sei und in den vergangene­n fünf Jahren rund 500 Patienten mit der Cannabinoi­d-Therapie versorgt habe, hätten viele Kollegen überhaupt keine Erfahrung mit der alternativ­en Behandlung­sform. Das liege daran, dass die Verordnung des Mittels vor dem neuen Gesetz außerhalb der Zulassung lag. Jetzt sei das Interesse indes groß. Allein seit Januar habe er in 20 Schulungen rund 1000 Ärzte fortgebild­et. Eine Cannabis-Sprechstun­de bietet die Uni-Klinik Homburg künftig für Privatpati­enten und Selbstzahl­er an.

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FOTO: W. BREITINGER Der Palliativm­edizinier Sven Gottschlin­g aus Homburg.

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