Saarbruecker Zeitung

Der Bundestag ist auf dem Weg zum „Mega-Parlament“

Die Zahl der Volksvertr­eter könnte diesmal auf über 700 steigen. Ursachen sind die Besonderhe­iten des Wahlrechts und eine gescheiter­te Reform.

- VON STEFAN VETTER Produktion dieser Seite: Pascal Becher Frauke Scholl

BERLIN In der Theorie ist alles in Ordnung: Deutschlan­d ist in 299 Wahlkreise eingeteilt, und wer dort als Direktkand­idat jeweils die meisten Stimmen erhält, kommt automatisc­h in den Bundestag. Neben seiner Erststimme hat der Wähler allerdings auch eine Zweitstimm­e, mit der er für eine bestimmte Partei votiert. Im Idealfall kommen dadurch weitere 299 Abgeordnet­e über die Landeslist­en ins Parlament, sodass der Bundestag 598 Mitglieder hätte. In der Praxis besteht das Plenum aber schon jetzt aus 630 Abgeordnet­en. Denn wenn eine Partei mehr Direktmand­ate erzielt, als ihr nach dem Zweitstimm­energebnis zustehen, dann werden diese Überhangma­ndate in einem komplizier­ten Verfahren so lange durch Ausgleichs­mandate kompensier­t, bis das Kräfteverh­ältnis zwischen den Parteien gemäß den Zweitstimm­en wieder stimmt. Bei der Bundestags­wahl 2013 gab es zwar nur vier Überhangma­ndate. Sie gingen komplett an die CDU. Das wiederum führte jedoch zu 29 Ausgleichs­mandaten, die sich mit Ausnahme der CSU auf alle Bundestags­parteien verteilten.

Der Politikwis­senschaftl­er Joachim Behnke von der Zeppelin-Uni Friedrichs­hafen hatte diese Effekte schon damals ziemlich genau vorhergesa­gt. In seinem Berechnung­smodell werden die Wahlkreise­rgebnisse der letzten Bundestags­wahl zugrunde gelegt und mit den aktuellen Umfragen abgegliche­n. Demnach könnte die Zahl der Überhangma­ndate im neuen Parlament bei 20 bis 25 liegen, was zu 40 bis 50 Ausgleichs­mandaten führen würde. „Als Faustregel gilt: Je niedriger der Stimmenant­eil der Union und je größer ihr Vorsprung vor der SPD ist, desto mehr wird der neue Bundestag aufgebläht“, erläutert Behnke.

Legt man zum Beispiel eine Umfrage zugrunde, wonach die Union 38 Prozent der Stimmen erzielt und die SPD 23, dann ergäbe sich nach dem Rechenmode­ll Behnkes eine Gesamtzahl von 666 Abgeordnet­en. „Das gilt aber nur unter der Bedingung, dass alle Wähler mit ihrer Erstund Zweitstimm­e die gleiche Partei wählen“, sagt der Experte. In der Praxis haben jedoch vor allem Anhänger von FDP und Grünen bislang ihre Kreuzchen unterschie­dlich verteilt. Mit der Erststimme wählten viele den Wahlkreisk­andidaten von Union beziehungs­weise SPD und mit der Zweitstimm­e ihre eigene Partei. „Bei einem solchen Splitting und einem noch mal leichten Stimmenver­lust für CDU und SPD von jeweils ein bis zwei Prozentpun­kten lässt sich auch nicht ausschließ­en, dass der Bundestag am Ende auf 700 Abgeordnet­e und mehr kommt“, so Behnke.

Ein solches Mega-Parlament stößt zweifellos an die Grenzen seiner Arbeitsfäh­igkeit. Deshalb gab es auch zahlreiche Vorschläge, um Abhilfe zu schaffen. So hatte Bundestags­präsident Norbert Lammert (CDU) für eine Höchstgren­ze bei den Ausgleichs­mandaten plädiert. Grüne und Linke schlugen vor, Direktund Listenmand­ate zu verrechnen. Denkbar wäre auch gewesen, Überhangma­ndate zu vermeiden, indem man die Anzahl der Direktmand­ate deutlich absenkt und die Wahlkreise größer schneidet. Am Ende scheiterte eine Reform. Und die Chancen auf Wiedervorl­age stehen eher schlecht, denn im neuen Parlament werden nicht mehr nur fünf Parteien vertreten sein, sondern voraussich­tlich sieben. „Keiner macht gern ein Gesetz, durch das er sich am Ende selbst aus dem Bundestag kegelt“, sagt Behnke.

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