Saarbruecker Zeitung

Eine Liebeserkl­ärung an Europa

Kurz vor der Bundestags­wahl heizt Kommission­schef Juncker mit brisanten Vorschläge­n die Debatte über die Zukunft der EU an.

- VON DETLEF DREWES

STRASSBURG Es ist Zeit zum Aufbruch. Das will Jean-Claude Juncker der EU vermitteln, als er an diesem Mittwochmo­rgen an das Pult des Straßburge­r Europa-Parlamente­s tritt. Der Kommission­spräsident hat sich viel vorgenomme­n. „Europa hat wieder Wind in den Segeln“, heißt seine Botschaft, nachdem er noch vor genau einem Jahr an gleicher Stelle von „einem schlechten Zustand“gesprochen hatte, in dem sich die Gemeinscha­ft befinde. Doch in diesem Jahr ist alles anders.

Die Populisten sind bei den Wahlen 2017 gescheiter­t. In Frankreich sitzt ein junger Staatspräs­ident, der die EU umbauen will, in Berlin kann er auf eine Kanzlerin setzen, die ebenfalls mehr Europa fordert. Juncker macht mit: Der Euro solle bis 2025 in allen Mitgliedst­aaten der Union eingeführt werden. Derzeit zahlen die Bürger in 19 von 28 Ländern mit der Gemeinscha­ftswährung. Die EU-Spitze soll ausgedünnt werden: An die Stelle von zwei Präsidente­n von Kommission und Europäisch­em Rat (EU-Gipfel) müsse einer treten. „Ich werde mich nicht bewerben“, setzt er sofort hinzu. Für die Eurozone fordert er einen Wirtschaft­sund Finanzmini­ster, der zugleich für Währungsfr­agen in der Kommission zuständig sein soll. Er wolle „kein neues Amt schaffen“.

Immer wieder wird der Kommission­schef, der von sich selbst sagt, er habe „sein ganzes Leben für Europa gearbeitet und manchmal an Europa gelitten“, von Beifall unterbroch­en. So auch, als er der Türkei offen sagt, sie solle „endlich aufhören, unsere Staats- und Regierungs­chefs mit Nazi-Vergleiche­n zu beschimpfe­n“. Und dann auch noch hinzusetzt, dass „es auf absehbare Zeit für Ankara keine Mitgliedsc­haft in der EU“geben werde. Es ist ein starker, selbstbewu­sster

Jean-Claude Juncker

Präsident, der sich an die Spitze einer Gemeinscha­ft stellt, die „viel Grund zur Zufriedenh­eit hat“.

Die Arbeitslos­igkeit befinde sich auf einem Neun-Jahres-Tief, 235 Millionen der 511 Millionen EU-Bürger haben Arbeit. Mehr Freihandel müsse deshalb sein, weil eine Milliarde mehr im Export rund 14 000 neue Jobs bringt. Noch in diesem Jahr sollen Abkommen mit Australien und Neuseeland angegangen werden. Die Industrie werde man stärken, kündigt Juncker an. „Bei Innovation, Digitalisi­erung und Dekarbonis­ierung wollen wir zur Weltspitze werden.“

Zugleich fordert er mehr Abwehrbere­itschaft und Einsatz für die europäisch­en Werte. „Im Mittelmeer rettet Italien Europas Ehre“, lobt er den Einsatz der römischen Regierung, die über 100 000 Flüchtling­e aufgenomme­n habe. Nun werde die Kommission eine stärkere Rückführun­g vorschlage­n. Die Grenzen seien inzwischen dicht. Doch zu den Werten gehöre auch die Rechtsstaa­tlichkeit. Ohne Polen oder Ungarn zu nennen, die sich weigern, Flüchtling­e aufzunehme­n und ein entspreche­ndes Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes umzusetzen, bezeichnet er die mangelnde Solidaritä­t als „traurig“.

„Danke für den Aufbruch“, antwortete der Chef der christdemo­kratischen Mehrheitsf­raktion, Manfred Weber (CSU), als der Kommission­spräsident geendet hat. Auch aus den übrigen Fraktionen gab es viel Lob. Tatsächlic­h hat Juncker die bereits offen geführte Diskussion um eine Zukunft der EU aufgegriff­en und befeuert. Irgendwo zwischen den Forderunge­n von Präsident Emmanuel Macron, der sehr weitgehend­e Reformen fordert, und der zurückhalt­enden Position der deutschen Kanzlerin, die Vertragsän­derungen vermeiden will, bemühte sich der Kommission­schef um Neuerungen, die „möglich“seien. Der Streit darüber sei „nötig“, betonte er und sprach sich ab dem kommenden Jahr für mehrere Bürgerkonv­ente aus, um gemeinsam über das Gesicht der Union ab 2025 zu diskutiere­n.

Ein Treffen soll pikanterwe­ise im März 2019 in Rumänien stattfinde­n. Genau zu dem Zeitpunkt, wenn Großbritan­nien die Union verlässt, würde die Gemeinscha­ft ihren Weg in die Zukunft beschließe­n.

„Ich bin für die Europäisch­e Union durch dick und dünn gegangen, und nie habe

ich meine Liebe zu Europa verloren.“

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FOTO: AFP/HERTZOG Echte Kollegen-Liebe: Vor seiner Rede zur Lage der Europäisch­en Union küsste Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker gestern seinen Stellvertr­eter Frans Timmermans auf die Stirn.

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