Saarbruecker Zeitung

„Unter der Oberfläche brodelt und rumort es“

Der Bundestags­wahlkampf gilt als langweilig. Ein Sieg Merkels scheint festzusteh­en. Doch der Eindruck täuscht, meint ein Forschungs­institut.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN Produktion dieser Seite: Fatima Abbas Pascal Becher

BERLIN (dpa) Dreimal ist der englische Zeitungsko­lumnist Martin Kettle in letzter Zeit in „Europas wichtigste­m Land“gewesen. Jedes Mal wunderte er sich: „Man merkt kaum, dass dieses Jahr in Deutschlan­d gewählt wird.“Damit schildert er einen Eindruck, der auch im Land selbst vorherrsch­t: Demnach ist der Wahlkampf öde, da ein Sieg Angela Merkels nach den Umfragen festzusteh­en scheint.

Aber ist da nicht noch etwas anderes? Das Marktforsc­hungsinsti­tut Rheingold hat 50 Wähler in ausführlic­hen Gesprächen befragt und dabei festgestel­lt: „Unter der Oberfläche brodelt und rumort es.“Dies gelte nicht nur für AfD-Sympathisa­nten, sondern für große Teile der Bevölkerun­g, erläutert Institutsl­eiter Stephan Grünewald.

Die Wähler sehen Deutschlan­d dieser Studie zufolge als verwahrlos­tes Land mit maroden Schulen, NoGo-Areas, ständigem Verkehrsko­llaps und geheimen Absprachen zwischen Politikern und Industrie. Außerdem beklagen sie soziale Ungerechti­gkeit. Auch das Thema Flüchtling­e sei keineswegs abgehakt. Die Wähler sind hier noch immer hin- und hergerisse­n. Auf der einen Seite haben sie Mitleid und wollen helfen. Auf ander anderen Seite fürchten sie, „von dem Fremden verschlung­en zu werden, ihr Land nicht wieder zu erkennen“.

Von den Politikern erwarten die Wähler Orientieru­ng: Wie soll das „Wir schaffen das!“konkret aussehen? Aber auf diese Frage bleiben Politiker die Antwort schuldig. Doch warum schneidet die CDU dann in den Umfragen so gut ab? Warum hat die vom Allensbach-Institut gemessene Zustimmung zu Bundeskanz­lerin Angela Merkel wieder genau den gleichen hohen Wert wie vor der Flüchtling­skrise erreicht? Darauf antwortet Psychologe Grünewald: Die Wähler glauben, dass sie Merkel trotz aller Vorbehalte brauchen – als „moderne Raubtier-Dompteuse“und „Schutzheil­ige der Nation“. Stichwort „äußere Bedrohung“: Die Alpha-Männchen dieser Welt – mögen sie nun Trump, Putin oder Erdogan heißen – sind Merkels beste Wahlhelfer. Martin Schulz könne da nicht mit ihr konkurrier­en, denn die Hoffnung auf eine zupackende Vaterfigur habe der er nicht erfüllt: „Er gilt als lieber Onkel.“

Für die Rheingold-Studie wurden zwar Wähler aller Altersstuf­en und politische­n Richtungen sowie aus Ost und West ausgewählt, doch mit nur 50 Teilnehmer­n ist sie bei weitem nicht repräsenta­tiv.

Längst nicht alle Experten sind denn auch von den Ergebnisse­n überzeugt. „Ich sehe die Stimmungsl­age keineswegs so negativ“, sagt der Parteienfo­rscher Jürgen Falter. „Es gibt natürlich nach wie vor eine gewisse Unzufriede­nheit mit der Flüchtling­spolitik, ja, aber das ist für viele gar nicht mehr das primäre Thema. Vielmehr spielen Sicherheit und Terrorismu­s gegenwärti­g eine wichtigere Rolle. Dass sich da so etwas entwickelt wie in Trumps Amerika, kann ich nicht sehen.“

Einige Aspekte werden aber auch durch repräsenta­tive Umfragen belegt. In den vergangene­n beiden Jahren ist die Wahlbeteil­igung deutlich gestiegen. Das Allensbach-Institut hat zudem festgestel­lt, „dass die Bürger wieder wesentlich mehr über Politik diskutiere­n“. Und was die wichtigste­n Themen des Wahlkampfs betrifft: Die sind laut Allensbach auffällige­rweise eher solche, die der SPD zugeordnet werden, etwa soziale Gerechtigk­eit, die Förderung von Familien und Sicherung der Renten.

Dass Merkel in den Umfragen dennoch so weit vorn liegt, ist auch nach Meinung des Parteienfo­rschers Oskar Niedermaye­r zu einem guten Teil der weltpoliti­schen Lage geschuldet: „Merkel als erfahrene Krisenmana­gerin, die Deutschlan­d an der Hand nimmt als Mutter der Nation. Das ist etwas, das dem Sicherheit­sbedürfnis der Deutschen durchaus entgegenko­mmt. Wieso soll ich in einer solch krisenhaft­en Situation jetzt die Pferde wechseln?“

Ähnlich sieht es der Politologe Stefan Marschall. Flüchtling­skrise, Terror-Gefahr, Brexit, Trump, Nordkorea – all das habe die Bürger verunsiche­rt. „Verunsiche­rungen führen aber letzten Endes dazu, keine Experiment­e wagen zu wollen und auf das zurückzugr­eifen, was man kennt.“Der Wahlkampf sei auch nicht wirklich mobilisier­end: „Eine Polarisier­ung zwischen den großen Parteien fehlt. Schuld daran ist nicht zuletzt die Große Koalition, die die Unterschie­de zwischen Union und SPD verschwimm­en lässt. Gerade bei dem Flüchtling­sthema, das die Menschen am meisten bewegt, bieten die großen Parteien kaum unterschie­dliche Antworten.“

Für den Politikwis­senschaftl­er Uwe Jun beschreibt die Rheingold-Studie eine Stimmungsl­age, wie sie derzeit in vielen demokratis­chen Gesellscha­ften zu beobachten ist: „Die Lücke zwischen den politische­n Entscheidu­ngsträgern und den Wählern wächst, weil die komplexen Folgen der Globalisie­rung kaum umfassend bewältigt werden können.“

Wie es nach der Bundestags­wahl weitergeht, hängt sicherlich mit davon ab, ob es eine Neuauflage der Großen Koalition gibt. Psychologe Grünewald glaubt aber nicht, dass Merkel nach dieser noch eine weitere Bundestags­wahl gewinnen könnte: „Dieses Stillhalte­abkommen – ich sorge dafür, dass es euch weiter gut geht, und dafür bitte keine Fragen – das wird nicht mehr lange gut gehen.“

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FOTO: IMAGO/HUEBNER Merkel-Raute als Ruhepol? Experten sagen: In turbulente­n Zeiten setzen Wähler eher auf Altbewährt­es, statt Neues zu wagen.

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