Wieder trifft es die britische Hauptstadt
Bei der Explosion einer selbstgebauten Bombe in einer Londoner U-Bahn wurden am Freitagmorgen 22 Menschen verletzt.
LONDON Die Bahn war wie jeden Morgen im Londoner Berufsverkehr völlig überfüllt, aber der routinierte Pendler Rory Rigney drückte sich mit ein paar anderen Passagieren noch in den Waggon. Die Luft heiß und stickig, zudem herrschte die zur Stoßzeit klassische Stille. Die Türen waren noch nicht geschlossen, da durchbrach plötzlich ein Knall die Ruhe und weil dieser nicht „gewaltig laut“war, dachte der 37-Jährige kurz, etwas sei zertrümmert worden. Rigney hörte einen Schrei und schon sah er einen „Feuerball“auf sich zukommen – „gelb
Emma
oder orange“, wie er Medien später schilderte. Selbst da fühlte er noch die Wärme auf seinem Gesicht. Später stellte sich heraus: Eine selbstgebaute Bombe war gegen 8.20 Uhr in einer U-Bahn an der oberirdischen Haltestelle Parsons Green im Südwesten der britischen Metropole explodiert. 22 Menschen trugen Verletzungen davon, niemand schwebt laut Behörden in Lebensgefahr. Es handelte sich hauptsächlich um Verbrennungen, mit denen Opfer im Krankenhaus behandelt wurden. Die Polizei stufte den Vorfall als Terroranschlag ein. Die Ermittlungen laufen – genauso wie die Großfahndung nach dem entkommenen Täter oder den Tätern.
Bevor Rory Rigney mit der Menge die Flucht aus dem Waggon gelingen konnte, fiel ihm noch der Geruch auf, der ihn an ein gelöschtes Feuer erinnerte. Außerdem entdeckte er eine Discounter-Tüte, in die ein kleiner weißer Eimer gepackt war, aus dem nun „rote Drähte“herausragten. Und er brannte. Hunderte Menschen rannten in Panik, viele schreiend, zur einzigen Treppe des kleines Bahnhofs, die zu den beiden Ausgängen führte. Augenzeugen berichteten, wie die Leute zu Boden fielen, übereinander trampelten und sich „wie die Sardinen“auf den Stufen drängelten. Es spielten sich dramatische Szenen ab. Chaos. Alle wollten nur weg, auch wenn die meisten nicht einmal wussten, was passiert war. „Die Schreie waren so laut und angsteinflößend, dass wir um unser Leben liefen“, sagte Emma, die sich bei der Explosion im Waggon nebenan befand. Zu tief sitzt bei den Briten der Schock nach vier Terroranschlägen zwischen März und Juni dieses Jahres. Bereits kurz nach dem Anschlag berief Premierministerin Theresa May den nationalen Krisenstab ein und drückte den Opfern ihr Mitgefühl aus: „Meine Gedanken sind bei denen, die in Parsons Green verletzt wurden und den Einsatzkräften, die abermals rasch und mutig auf einen mutmaßlichen Terroranschlag reagieren.“Außenminister Boris Johnson rief die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Bürgermeister Sadiq Khan sagte: „Unsere Stadt verurteilt die widerwärtigen Individuen, die mit Terror versuchen, uns zu schaden und unsere Lebensweise zu zerstören.“
Den ganzen Tag kreisten Helikopter über der Gegend, die großräumig abgesperrt und untersucht wurde. Hunderte Beamte werteten derweil Videomaterial und andere Beweismittel aus, wie der Chef der Londoner Anti-Terror-Einheit, Mark Rowley, bekannt gab. Immerhin, keine andere Großstadt in Europa hat mehr Überwachungskameras installiert als die britische Metropole – an jeder Straßenecke, in U-Bahnen, an Stationen. Nachdem im Jahr 2005 vier Selbstmordattentäter 52 Menschen bei Anschlägen in der Londoner Underground sowie in einem Bus töteten, wird immer wieder der öffentliche Nahverkehr als Schwachstelle ausgemacht. Und die Alarmbereitschaft ist hoch in diesem „sehr sehr schwierigen Jahr“, wie ein Experte bemerkte. Denn sollte sich die gestrige Explosion als Terroranschlag bestätigen, wäre dies bereits der fünfte im Königreich 2017. Im März war es ein islamistischer Terrorist, der auf der Westminster-Brücke mit einem Auto gezielt in Fußgänger gerast war, bevor er einen Polizisten auf dem Gelände des Parlaments niederstach. Fünf Menschen starben. Im Mai kamen dann bei einem Selbstmordanschlag 22 Konzertbesucher ums Leben. Acht Personen wurden kurz darauf bei einem Angriff auf das Londoner Ausgehviertel Borough Market und die London Bridge getötet. Ein Mann starb bei einem Angriff eines Islamhassers auf Moscheebesucher Ende Juni in der Hauptstadt. Gestern Abend hat die britische Regierung die Terrorwarnstufe auf die höchste Stufe „kritisch“angehoben, bei der Anschläge höchst wahrscheinlich sind.
Medien und Beobachter spekulierten gestern unter Berufung auf Polizeikreise, dass die Bombe nicht wie geplant explodiert sei. „Es hätte weitaus schlimmer kommen können“, hieß es unaufhörlich. London scheint verhältnismäßig Glück gehabt zu haben.
„Die Schreie waren so laut und angsteinflößend, dass wir um unser
Leben liefen.“
befand sich bei der Explosion im benachbarten U-Bahn-Waggon