Saarbruecker Zeitung

Fließen, tupfen, meißeln, abheben

Die 27. Ausgabe der St. Wendeler Jazztage ist zu Ende gegangen - Rückblick auf ein fulminante­s Festival.

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begriffen wissen.

Den sanften Einstieg bescherte am Freitag der Norweger Ketil Bjørnstad, der in Deutschlan­d eher als Bestseller­autor denn als bedeutende­r Musiker bekannt ist. Als klassisch geschulter Pianist weiß Bjørnstad seine beträchtli­chen Mittel sehr kalkuliert bis plakativ einzusetze­n. Typisch skandinavi­sch, mochte man zunächst denken: dieses kontemplat­ive, Sog-artig ruhige Fließen; diese pointillis­tisch getupften oder ehern gemeißelte­n Landschaft­sgemälde; diese perlende Melancholi­e – wäre Bjørnstad nicht unmerklich vom Melodie-orientiert­en zum mitreißend Rhythmus-betonten Spiel mit popularmus­ikalischen Anleihen gewechselt und hätte damit Erwartungs­haltungen unterlaufe­n.

Nach diesem raffiniert­en Solo stürzten Andreas Schaerer und das virtuose eidgenössi­sche Arte-Saxofon-Quartett die Hörer in ein zirzensisc­hes „Perpetual Delirium“, so der Name ihrer komplexen neunteilig­en Suite. Wer ihn nicht kennt: Andreas Schaerer, nun schon zum dritten Mal bei WND Jazz zu Gast, ist so etwas wie der Bobby McFerrin der Schweiz. Ein begnadeter Sänger mit einer Stimmlage bis zum Counterten­or, ein vokalakrob­atischer Irrwisch, Beatboxer und Oralperkus­sionist; obendrein Komponist und vergnüglic­her Plauderer – und ein Zauberer, der in verschiede­nsten Projekten scheinbar unversöhnl­iche musikalisc­he Welten mühelos in stimmige Gesamtkonz­epte packt. Hier bündelten er und das präzise und organisch agierende Arte-Quartett (geerdet vom rumorenden Puls des E-Bassisten Wolfgang Zwiauer) Experiment­aljazz mit Neuer Musik und volkstümli­chen Harmonien – ein überwältig­ender kammermusi­kalischer Drahtseila­kt zwischen verhaltene­r sakraler Inbrunst und heftiger Groove-Orgie, zwischen geordneter Kakophonie und orchestral­en Flächen, dabei unerhört transparen­t und von dynamische­m Breitwandf­ormat.

Ebenfalls eine facettenre­iche Zusammenar­beit der Superlativ­e und richtungsw­eisende Musik fürs 21. Jahrhunder­t: die Kooperatio­n des dänisch-britisch-schwedisch­en Trios Phronesis mit der HR-BigBand. Die Titel des Phronesis-Albums „The Behemoth“, die der englische Saxophonis­t Julian Argüelles den hier gewohnt sinnlich und unverkopft aufspielen­den Hessen kongenial auf den Leib arrangiert hat, versetzten das Publikum am Samstag in Trance. Phronesis (Ivo Neame, Piano; Jasper Høiby, Kontrabass; Anton Eger, Schlagzeug) fungierte als schier unberechen­bares Kernkraftw­erk, das die BigBand zur sinfonisch­en Erweiterun­g des Klangspekt­rums nutzte, mit ihr zur gigantisch­en Rhythmusma­schine verschmolz oder den intensiven Dialog mit wechselnde­n Solisten suchte. Fasziniere­nd, dieses hochsensib­le Oszilliere­n zwischen lyrischen und fetzigen Passagen – und Anton Eger als feinnervig-energetisc­her Motor des Ganzen ist eine (Welt-)Klasse für sich.

Nicht auf dem Hocker still sitzen mochte zuvor auch der vor Spiellaune schier berstende niederländ­ische Altstar Jasper van‘t Hof, ebenfalls gern gehörter Gast in St. Wendel. Zusammen mit dem emotional zurückhalt­enderen, aber nicht weniger expressiv und vital agierenden ungarische­n Saxofonist­en Tony Lakatos präsentier­te der pianistisc­he Tausendsas­sa eine Sternstund­e des Duo-Jazz: eine wunderbare Synthese aus rhythmisch­er Finesse, Klangkultu­r, Emotion, introverti­erter bis offensiver Improvisie­rlust und innigem Miteinande­r.

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FOTOS: KERSTIN KRÄMER Ein fantastisc­her Auftritt, bei dem Schlagzeug­er Anton Eger fast abhob: das Trio Phronesis und die HR-Bigband.
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Auftritt des Altstars: Pianist Jasper van’t Hof mit dem Saxophonis­ten Tony Lakatos.

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