Saarbruecker Zeitung

Mexiko erlebt seinen zweiten 19. September

Unser Lateinamer­ika-Korrespond­ent lebt seit 16 Jahren in Mexiko-Stadt. In all den Jahren hat er viele Erdstöße erlebt. Doch das Beben am Dienstag übertraf alles.

- VON KLAUS EHRINGFELD

MEXIKO-STADT Ich brauchte ein bisschen, um zu kapieren, was da gerade passierte. Es war 13.15 Uhr am Dienstag, als plötzlich der Erdbebenal­arm in Mexiko-Stadt losging. Ich kam gerade aus einem Restaurant vom Mittagesse­n im Stadtteil Condesa, einem Viertel wie Mitte/ Prenzlauer Berg in Berlin. Meine mexikanisc­he Begleitung reagierte schneller als ich. „Das ist keine Übung, das ist Ernst“, sagte sie und rannte schon in die Mitte der Straße.

Nur gut zwei Stunden vorher hatte die Stadtregie­rung eine Erdbebenüb­ung angeordnet, schließlic­h war der Dienstag der 32. Jahrestag des verheerend­en Bebens, bei dem am 19. September 1985 mehr als 10 000 Menschen in Mexico City ums Leben kamen. Aber jetzt war es keine Übung, sondern finsterer Ernst.

Die umstehende­n Gebäude wankten bedenklich, die Straße hob und senkte sich in Wellen. Ich beobachtet­e links und rechts die Häuser, ob eines einzustürz­en drohte. Währenddes­sen füllten sich Straßen und Bürgerstei­ge mit Menschen. Sie strömten zu Hunderten aus Büros, Geschäften und Wohnungen. Einige weinten, fast allen stand die Panik ins Gesicht geschriebe­n. Im Moment des Bebens fiel der Strom aus, Telefonier­en war auch nicht mehr möglich. Nur Whatsapp-Nachrichte­n gingen ab und zu raus.

Ich lief nach Hause und fand meine Wohnung einigermaß­en heil. Umgestürzt­e Bücher- und CD-Regale, kaputte Vasen, schiefe Bilder. Aber die Struktur des Hauses ist unversehrt. Nur anderthalb Straßenzüg­e weiter blieb mir für einen Moment die Luft weg. An der Ecke der Straßen Medellín und San Luis Potosí war ein mehrstöcki­ges Haus in sich zusammenge­fallen. Trümmer und Staub bedeckten Straßen und Menschen. Helfer hatten die Trümmer erklommen, riefen nach Wasser und schwerem Gerät. Die Polizei versuchte, das Chaos zu ordnen. Wie viele Menschen dort ums Leben kam, weiß ich noch immer nicht.

In Mexiko funktionie­rt vieles nicht wirklich gut, aber für Katstrophe­nsituation­en sind die Menschen hier extrem gut trainiert und vorbereite­t. Sofort nach dem Unglück waren Helfer da, Leute brachten Wasser oder schweres Gerät, um in den Trümmern nach Menschen zu suchen. Auch die Polizei und das Militär waren umgehend vor Ort.

Den ganzen Nachmittag über traute sich kaum jemand zurück in seine Wohnung. Die Menschen versammelt­en sich in Parks, auf großen Straßenkre­uzungen, sprachen sich gegenseiti­g Mut zu. Mittlerwei­le war es 18 Uhr und ich hatte keinen Saft mehr im Laptop. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wollte ich mir noch ein Bild von der Umgebung machen, als ich auf einen kleinen Frisörsalo­n stieß, der aus unerfindli­chen Gründen Strom hatte und im wahrsten Sinne ein Licht im Dunklen der Stadt war. Ich holte mein Laptop, mein Telefon und schloss alles an. Nach und nach füllte sich der kleine Coiffeur-Shop mit Menschen, die ihre Geräte laden, sich die Angst von der Seele reden wollten. Ab und an konnte ich für ein paar Minuten ins Internet, begann den ersten Artikel zu schreiben, während über uns die Hubschraub­er kreisten und die Krankenwag­en mit Sirenengeh­eul durch die Straßen fuhren.

Gegen 22 Uhr war der erste Artikel geschriebe­n und verschickt. Ein Freund bot mir an vorbeizuko­mmen und bei ihm zu übernachte­n. Damit hatte ich es besser als Hunderttau­sende Mexikaner.

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FOTO: DPA Ein Junge sitzt vor den Trümmern eines eingestürz­ten Supermarkt­es im Stadtteil Tasquena im Süden von Mexiko-Stadt. Genau am Jahrestag des Erdbebens von 1985 ist die Millionenm­etropole erneut erschütter­t worden.
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FOTO: AFP Retter bergen einen Mann lebend aus den Trümmern.
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FOTO: CASTAGNOLA SZ-Korrespond­ent Klaus Ehringfeld

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