Saarbruecker Zeitung

Merkel, Schulz und der Tag der Abrechnung

Laut Umfragen droht der SPD eine historisch­e Pleite. Doch auch für die Kanzlerin könnte der Wahlsonnta­g bitterer als gedacht enden.

- VON TIM BRAUNE UND JÖRG BLANK Produktion dieser Seite: Thomas Schäfer Frauke Scholl

(dpa) Plötzlich treffen Angela Merkel und Martin Schulz doch nochmal aufeinande­r. Seinen trotzigen Ruf nach einem zweiten TV-Duell bügelte die Kanzlerin kürzlich zwar kühl ab. Am Freitag aber sitzt der SPD-Mann im ARD-Hauptstudi­o, einen Kopfhörer auf den Ohren. Er hört, wie eine aufgezeich­nete Frage von „Dr. Angela Merkel“abgespielt wird. Sie war am Vortag im selben Studio. Von Schulz will sie leicht spöttisch wissen, „wie man das alles bezahlen soll“, was die SPD bei Bildung, Rente, Pflege & Co. verspricht. Schulz wolle ja Überschüss­e aus dem Haushalt nehmen: „Da muss ich ihm sagen, er hat leider keine.“

Schulz verzieht das Gesicht, als er das hört. „Frau Merkel hat unrecht!“Und Schulz macht wirklich einen Punkt. Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble hat Schwarz auf Weiß ausgerechn­et: Der Bund wird bis 2021 knapp 15 Milliarden Euro zur Verfügung haben, um Bürger zu entlasten oder neue Projekte zu finanziere­n.

Nur was bringt Schulz das noch, keine 48 Stunden vor Öffnung der Wahllokale am Sonntagmor­gen? Stimmen die jüngsten Umfragen, muss die SPD eine historisch­e Demütigung befürchten. Es könnte noch tiefer runtergehe­n als 2009, als Frank-Walter Steinmeier nur 23 Prozent holte. Was dann im WillyBrand­t-Haus passiert, kann niemand seriös vorhersage­n. Schützt Schulz der 100-Prozent-Panzer seiner Wahl zum Vorsitzend­en im März vor einem Totalabstu­rz? Der 61-Jährige ist in der Partei unveränder­t beliebt. Die Genossen zollen ihm Respekt, wie er bis zur letzten Minute alles gibt – auch wenn die eher mäkelig daherkomme­nde Gerechtigk­eitskampag­ne wohl an der Stimmung im Land vorbeiging. Große persönlich­e Fehler kann man Schulz schwerlich vorhalten – anders als Peer Steinbrück, der vor vier Jahren in viele Fettnäpfch­en trat und am Ende auf einem Magazin-Cover der Republik den Stinkefing­er zeigte. Schulz sagt von sich, er sei ein „Streetfigh­ter“. Kürzlich sagte er, er werde auf keinen Fall den Vorsitz aufgeben. Aber wann meldet sich bei Schulz womöglich die Selbstacht­ung? Unter 20 Prozent?

Die SPD-Führung will chaotische Abläufe am Wahlabend unbedingt vermeiden. Landeschef­s, Ministerpr­äsidenten und Bundesmini­ster wollen kommen. Seit Tagen wird Schulz, der sich akribisch auf den Auftritt nach 18 Uhr vorbereite­t, von Parteifreu­nden mit SMS bombardier­t. Ratschläge werden erteilt, Bündnisse angefragt. Die allermeist­en Nachrichte­n bleiben unbeantwor­tet. Behalten alle die Nerven, könnte das Drehbuch so aussehen: Schulz gesteht die – vorausgese­tzt die Umfragen treffen zu – schwere Niederlage ein, schmeißt aber nicht hin. Die SPD und er könnten im November oder Dezember noch für eine neue Groko gebraucht werden, wenn Union, FDP und Grüne Jamaika nicht hinbekomme­n. Darauf setzen auch Spitzengen­ossen wie Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann, deren Karrieren beim Gang der SPD in die Opposition auslaufen würden.

Zahlt sich Schulz’ Kampfgeist noch aus, schnuppert er an der 25-Prozent-Marke und schmiert Merkel ab, könnte er den Fraktionsv­orsitz beanspruch­en – wie Steinmeier 2009. Gibt es klare Verhältnis­se, reicht es für Schwarz-Gelb, wäre folgendes Szenario möglich: Schulz löst sich aus der „Freundscha­ft“mit Gabriel, verbündet sich mit Andrea Nahles, die als Fraktionsc­hefin für einen Neuaufbau in der Opposition stehen würde.

In der CDU-Spitze hoffen sie, dass die Demoskopen nicht total daneben liegen. Landet die Union bei 36 bis 37 Prozent, wäre das immerhin Merkels zweitbeste­s Ergebnis nach 41,5 Prozent 2013, heißt es vorsorglic­h. Fällt die Union dagegen unter die 33,8 Prozent aus dem Jahr 2009, dürfte nicht nur Horst Seehofer seine Zurückhalt­ung fahren lassen. Ganz schnell könnte der CSU-Chef klar machen wollen, wer die Verantwort­ung für ein mieses Ergebnis hat: Merkel mit ihrer Flüchtling­spolitik. Maximale Distanz wäre dann wohl angesagt, ein Jahr vor der wichtigen Landtagswa­hl in Bayern. Auch in den eigenen Reihen könnte die Frage nach Merkels Zukunft wieder lauter gestellt werden.

Damit das nicht passiert, rührt sie auf den letzten Drücker nochmal die Werbetromm­el. An diesem Samstag ist die Parteichef­in in ihrem Wahlkreis im Norden Mecklenbur­g-Vorpommern­s unterwegs, wo ihr AfD-Landeschef Leif-Erik Holm das Direktmand­at abjagen will. Am Sonntag ist Merkel dann zum Nichtstun verdammt. Mittags gibt sie in einer Mensa des Studierend­enwerks in Berlin ihre Stimme ab, dann fährt sie in die CDU-Zentrale. Jüngst hat sie verraten, dass ihr die Wartezeit gar nicht passt. Bis Samstag könne sie etwas tun, hatte sie gesagt. „Danach ist nur noch Warten und Gucken. Das ist wie Zeugnisver­gabe.“

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Endspurt um die Wählerguns­t: Angela Merkel machte gestern in Heppenheim Wahlkampf, Herausford­erer Martin Schulz in Nürnberg.
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FOTOS: DEDERT/KARMANN/DPA

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