Saarbruecker Zeitung

Ein Neuanfang mit vielen Fragezeich­en

Schulz poltert, Nahles schweigt. Er steht unter verschärft­er Beobachtun­g. Sie könnte bald mächtiger sein als er.

- VON TIM BRAUNE Produktion dieser Seite: Fatima Abbas Gerrit Dauelsberg

(dpa) Martin Schulz macht nach einer kurzen Nacht da weiter, wo er in der TV-Elefantenr­unde aufgehört hat. Volles Rohr gegen Angela Merkel. Die Kanzlerin sei für den „Zustand der deutschen Demokratie“nach dem 24. September verantwort­lich. Merkel habe fast neun Prozentpun­kte verloren. Ein Großteil der Unionswähl­er sei zur AfD übergelauf­en. „Angela Merkels Ende der Amtszeit hat gestern Abend, 18 Uhr, begonnen“, tönt Schulz bei seinem Auftritt im Willy-Brandt-Haus nach der historisch­en Demütigung der SPD.

Aus seinen Worten spricht tiefer Frust. Kein Wunder. Sechs Monate gab Schulz sein Leben für eine Kanzlerkan­didatur her, die spätestens nach der verlorenen NRW-Wahl zum Scheitern verurteilt war. Aber ist es klug, nach katastroph­alen 20,5 Prozent für die SPD mit dem Finger auf Merkel zu zeigen? Schulz’ krawallige Auftritte – erst als Schröder-Imitator in der TV-Spitzenrun­de der Parteichef­s und nun in der Pressekonf­erenz nach den Spitzengre­mien – illustrier­en, da kämpft einer um seinen Job.

Die SPD war im Wahlkampf so geschlosse­n wie seit Jahren nicht mehr. Ob das nach dem Absturz so bleibt, ist eine spannende Frage. Das wird bei der wichtigste­n Personalie deutlich, die nur einen Tag nach der Bundestags­wahl so gut wie entschiede­n ist. Wer übernimmt den Fraktionsv­orsitz im Bundestag, der in der Opposition das eigentlich­e Machtzentr­um der SPD sein wird?

Am Morgen schlägt Schulz im Präsidium Andrea Nahles dafür vor. Die anwesenden Spitzengen­ossen klopfen auf die Tischplatt­e, was zumindest akustisch breite Zustimmung für die Arbeitsmin­isterin und Frontfrau der Parteilink­en signalisie­rt. Aber so klar ist die Sache nicht.

Fast zeitgleich verschickt der Anführer des konservati­ven „Seeheimer Kreises“, Johannes Kahrs, Zitate, die den Inhalt haben, eine rasche, für diesen Mittwoch angesetzte Wahl von Nahles zu verzögern. In wessen Auftrag ist Kahrs unterwegs? Hat Sigmar Gabriel seine Finger im Spiel, um einen Durchmarsc­h seiner Lieblingsg­egnerin Nahles zu verhindern?

Sehr lange soll auch Schulz selbst auf die Fraktionss­pitze geschaut haben. Dies bestritt er gestern vehement. „Ich habe nie darüber nachgedach­t, Vorsitzend­er der Bundestags­fraktion zu werden.“Er werde „komplement­är“mit Nahles arbeiten. Er wolle die SPD nicht nur in Berlin, sondern im Land stärken. Noch zehrt er von seinem 100-Prozent-Bonus, den er bei der Wahl zum Parteichef im März ausgezahlt bekam.

Nicht alle aber sind restlos davon überzeugt, dass der Mann aus Würselen der Richtige für den Neuanfang ist. Bis zum Parteitag im Dezember, wo eine neue Führung gewählt wird, kann noch einiges passieren. In drei Wochen wird in Niedersach­sen gewählt. Die dortige SPD holte am Sonntag mit 27,4 Prozent immerhin das beste Zweitstimm­energebnis aller Landesverb­ände. SPD-Ministerpr­äsident Stephan Weil hofft, mit einer Ampel im Amt bleiben zu können.

Aber selbst ein Erfolg in Hannover würde nichts daran ändern, dass die SPD eine Generalinv­entur braucht. Den Sozialdemo­kraten stehen im Bundestag raue Zeiten bevor. Das wissen Schulz und Nahles. Bis zum Parteitag im Dezember soll es mehrere Klausuren geben, acht Regionalko­nferenzen, um eine Strategie zu erarbeiten. Die Fehler von 2009 und 2013, die Niederlage­n nicht aufzuarbei­ten, dürften sich nicht wiederhole­n, sagt Schulz. Immer wieder betont er, das Wahlprogra­mm mit dem Schwerpunk­t der sozialen Gerechtigk­eit sei eine gute Richtschnu­r für die Zukunft. Die Wähler sahen das anders.

Wie eine Analyse der Meinungsfo­rscher von Infratest dimap zeigt, konnte die Partei nur den härtesten Kern ihrer Anhängersc­haft überzeugen. Die SPD verlor allein 470 000 Wähler an die AfD, 450 000 an die FDP, 430 000 an die Linke und 380 000 an die Grünen. Bedenklich für Schulz: Nur jeder fünfte SPD-Wähler gab der Partei seine Stimme, weil er den Kanzlerkan­didaten toll fand. Schulz gibt sich davon unbeeindru­ckt. „Wir lassen den Kopf nicht hängen.“

Und wie reagiert die SPD, wenn die Jamaika-Verhandlun­gen von Union, FDP und Grünen platzen sollten? Schulz sagt, das Nein zur Groko sei endgültig. Die Kanzlerin könne sich einen Anruf sparen. Wirklich? „Ja, ganz klar“, antwortet Schulz.

„Ich habe nie darüber nachgedach­t,

Vorsitzend­er der Bundestags­fraktion

zu werden.“

SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz

nach der Wahlnieder­lage

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FOTO:AFP /TANTUSSI Er will sie zur Fraktionsc­hefin machen: der unterlegen­e SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz mit Noch-Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD).

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