Neue Mauern im vereinten Land
Deutschland feiert die Einheit, doch nach der Bundestagswahl regiert nur die Unsicherheit. Bundestagspräsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor einer gespaltenen Nation.
„Nirgendwo stehen sich die Meinungslager so unversöhnlich
gegenüber.“
Bundestagspräsident Steinmeier
über die hitzige Flüchtlingsdebatte
(epd/dpa) „Jetzt musst Du da rüber“, feuert die ältere Dame ihren Mann an, während der mit einem Folienstift einen Strich quer über eine Deutschlandkarte zieht. „Jetzt hoch, nein, höher, Hof war doch auf unserer Seite!“Bei den Feiern zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz lässt sich am Stand der Stiftung Aufarbeitung erahnen, wie viel Zeit vergangen ist seit dem 3. Oktober 1990. Jüngere Besucher der Festmeile trauen sich erst gar nicht mehr, den Verlauf der alten deutsch-deutschen Grenze auf der Karte einzuzeichnen. Das gelingt fast nur noch den Grauhaarigen.
Zwei Tage lang feierte Rheinland-Pfalz als aktuelles Vorsitzland des Bundesrats in der Landeshauptstadt Mainz die deutsche Einheit. Mit Sanddornlikör aus Mecklenburg-Vorpommern und Original VW-Wurst aus Niedersachen, zu den fröhlichen Klängen einer Dixie-Band aus Köln und Seemannsliedern aus Schleswig-Holstein. Rund 500 000 Besucher erwarteten die Veranstalter zu dem Bürgerfest, das unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschland“stand – das ist die selbe Teilnehmerzahl, die die Stadt gewöhnlich auch an Rosenmontagen nennt.
Und doch war in Zeiten ständiger Terrorgefahr und nur zehn Tage nach dem Absturz der großen Volksparteien bei der Bundestagswahl manches anders, als bei vergangenen Einheitsfeiern. Über 7000 Polizisten sicherten die Veranstaltung, Zufahrtsstraßen wurden mit Betonsperren blockiert, die aussahen wie riesige graue Legosteine. Im Bereich zwischen Dom und Rheingoldhalle, wo Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern zum Gottesdienst und Staatsakt zusammenkamen, wurden Anwohner eindringlich gebeten, sich in Fensternähe nicht verdächtig zu verhalten.
„Wie damals bei George W. Bush“, war ein Satz, der im Vorfeld immer wieder in Mainz fiel. Viele in der Stadt erinnern sich noch an den Staatsbesuch des US-Präsidenten vor zwölf Jahren und die verstörenden Sicherheitsmaßnahmen. Zwei Tage vor den Einheitsfeiern erschien in der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“sogar die Titelgeschichte „Das Fest in der Festung“. In der Kommentarspalte wurde ganz offen angeregt, ob nicht Bürger und Staatsspitze künftig besser an getrennten Orten feiern sollten.
Auch Bundespräsident FrankWalter Steinmeier warnte bei seiner großen Rede vor einer Spaltung der Gesellschaft. Die Bundestagswahl am 24. September habe deutlich gemacht, dass neue Mauern im Land entstanden seien, sagte er bei der zentralen Einheitsfeier. Dazu zählten „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut“. Steinmeier mahnte: „Aus unseren Differenzen dürfen keine Feindschaften entstehen – aus Unterschieden nicht Unversöhnlichkeit.“Die Bürger sollten lernen, einander zuzuhören.
Als besonders umstrittenes Thema hob Steinmeier die Flüchtlingspolitik hervor. „Nirgendwo stehen sich die Meinungslager so unversöhnlich gegenüber.“Er betonte, dass Deutschland politisch Verfolgten Schutz gewähren müsse. Doch dies sei nur möglich, „wenn wir die Unterscheidung darüber zurückgewinnen, wer politisch verfolgt ist oder wer auf der Flucht vor Armut ist“. Zudem müssten „legale Zugänge nach Deutschland“definiert werden. Wenn sich die Politik dieser Aufgaben annehme, „gibt es eine Chance, die Mauern der Unversöhnlichkeit abzutragen, die in unserem Land gewachsen sind“.
Als sich Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem Festgottesdienst auf dem Marktplatz einige Minuten Zeit für Gespräche mit Bürgern nehmen, ist von Verdruss nichts zu spüren. Statt Pöbeleien und Beschimpfungen wie vor einem Jahr bei den Einheitsfeiern in Dresden gibt es freundlichen Beifall. Einige in der Menge singen den Spitzenrepräsentanten der Republik den Beatles-Hit „All you need is love“entgegen. ein Symbol für den Aufbruch? Eher nicht. „Das war keine Demonstration“, erklärt eine der Sängerinnen später. „Wir sind einfach nur ein Chor.“
Einen Akzent hatte die evangelische Kirche mit ihrem Begleitprogramm schon am Eröffnungsabend gesetzt. Die Protestanten hatten zu einer „Nacht der Freiheit“in die Christuskirche geladen – zu Gospel, Blues und Trommelklängen. An alle Besucher wurden weiße Bänder mit den Namen gewaltloser politischer Gefangener verteilt, etwa dem des ägyptischen Fotojournalisten Mahmoud Abu Zeid. Den Deutschen, die mittlerweile in Freiheit leben, dürfe das Schicksal von Häftlingen anderswo nicht gleichgültig bleiben, sagt Pfarrer Wolfgang Weinrich.
Auf der Mainzer Festmeile parkt neben dem Ratespiel zur deutsch-deutschen Grenze ein grauer Kleintransporter der Marke Barkas B1000, die bis zur Wende in der Karl-Marx-Stadt hergestellt wurden. An der Außenseite klebt noch die Beschriftung „Obst und Gemüse“– tatsächlich war der Wagen aber ein Gefangenentransporter der DDR-Staatssicherheit. Noch vor 30 Jahren konnte es auch im Osten Deutschlands ausreichen, laut seine Meinung zu sagen, um abgeholt und in eine Transportzelle gequetscht zu werden.