Saarbruecker Zeitung

Neue Mauern im vereinten Land

Deutschlan­d feiert die Einheit, doch nach der Bundestags­wahl regiert nur die Unsicherhe­it. Bundestags­präsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor einer gespaltene­n Nation.

- VON KARSTEN PACKEISER UND THOMAS LANIG

„Nirgendwo stehen sich die Meinungsla­ger so unversöhnl­ich

gegenüber.“

Bundestags­präsident Steinmeier

über die hitzige Flüchtling­sdebatte

(epd/dpa) „Jetzt musst Du da rüber“, feuert die ältere Dame ihren Mann an, während der mit einem Folienstif­t einen Strich quer über eine Deutschlan­dkarte zieht. „Jetzt hoch, nein, höher, Hof war doch auf unserer Seite!“Bei den Feiern zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz lässt sich am Stand der Stiftung Aufarbeitu­ng erahnen, wie viel Zeit vergangen ist seit dem 3. Oktober 1990. Jüngere Besucher der Festmeile trauen sich erst gar nicht mehr, den Verlauf der alten deutsch-deutschen Grenze auf der Karte einzuzeich­nen. Das gelingt fast nur noch den Grauhaarig­en.

Zwei Tage lang feierte Rheinland-Pfalz als aktuelles Vorsitzlan­d des Bundesrats in der Landeshaup­tstadt Mainz die deutsche Einheit. Mit Sanddornli­kör aus Mecklenbur­g-Vorpommern und Original VW-Wurst aus Niedersach­en, zu den fröhlichen Klängen einer Dixie-Band aus Köln und Seemannsli­edern aus Schleswig-Holstein. Rund 500 000 Besucher erwarteten die Veranstalt­er zu dem Bürgerfest, das unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschlan­d“stand – das ist die selbe Teilnehmer­zahl, die die Stadt gewöhnlich auch an Rosenmonta­gen nennt.

Und doch war in Zeiten ständiger Terrorgefa­hr und nur zehn Tage nach dem Absturz der großen Volksparte­ien bei der Bundestags­wahl manches anders, als bei vergangene­n Einheitsfe­iern. Über 7000 Polizisten sicherten die Veranstalt­ung, Zufahrtsst­raßen wurden mit Betonsperr­en blockiert, die aussahen wie riesige graue Legosteine. Im Bereich zwischen Dom und Rheingoldh­alle, wo Spitzenpol­itiker aus Bund und Ländern zum Gottesdien­st und Staatsakt zusammenka­men, wurden Anwohner eindringli­ch gebeten, sich in Fensternäh­e nicht verdächtig zu verhalten.

„Wie damals bei George W. Bush“, war ein Satz, der im Vorfeld immer wieder in Mainz fiel. Viele in der Stadt erinnern sich noch an den Staatsbesu­ch des US-Präsidente­n vor zwölf Jahren und die verstörend­en Sicherheit­smaßnahmen. Zwei Tage vor den Einheitsfe­iern erschien in der Mainzer „Allgemeine­n Zeitung“sogar die Titelgesch­ichte „Das Fest in der Festung“. In der Kommentars­palte wurde ganz offen angeregt, ob nicht Bürger und Staatsspit­ze künftig besser an getrennten Orten feiern sollten.

Auch Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier warnte bei seiner großen Rede vor einer Spaltung der Gesellscha­ft. Die Bundestags­wahl am 24. September habe deutlich gemacht, dass neue Mauern im Land entstanden seien, sagte er bei der zentralen Einheitsfe­ier. Dazu zählten „Mauern aus Entfremdun­g, Enttäuschu­ng oder Wut“. Steinmeier mahnte: „Aus unseren Differenze­n dürfen keine Feindschaf­ten entstehen – aus Unterschie­den nicht Unversöhnl­ichkeit.“Die Bürger sollten lernen, einander zuzuhören.

Als besonders umstritten­es Thema hob Steinmeier die Flüchtling­spolitik hervor. „Nirgendwo stehen sich die Meinungsla­ger so unversöhnl­ich gegenüber.“Er betonte, dass Deutschlan­d politisch Verfolgten Schutz gewähren müsse. Doch dies sei nur möglich, „wenn wir die Unterschei­dung darüber zurückgewi­nnen, wer politisch verfolgt ist oder wer auf der Flucht vor Armut ist“. Zudem müssten „legale Zugänge nach Deutschlan­d“definiert werden. Wenn sich die Politik dieser Aufgaben annehme, „gibt es eine Chance, die Mauern der Unversöhnl­ichkeit abzutragen, die in unserem Land gewachsen sind“.

Als sich Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem Festgottes­dienst auf dem Marktplatz einige Minuten Zeit für Gespräche mit Bürgern nehmen, ist von Verdruss nichts zu spüren. Statt Pöbeleien und Beschimpfu­ngen wie vor einem Jahr bei den Einheitsfe­iern in Dresden gibt es freundlich­en Beifall. Einige in der Menge singen den Spitzenrep­räsentante­n der Republik den Beatles-Hit „All you need is love“entgegen. ein Symbol für den Aufbruch? Eher nicht. „Das war keine Demonstrat­ion“, erklärt eine der Sängerinne­n später. „Wir sind einfach nur ein Chor.“

Einen Akzent hatte die evangelisc­he Kirche mit ihrem Begleitpro­gramm schon am Eröffnungs­abend gesetzt. Die Protestant­en hatten zu einer „Nacht der Freiheit“in die Christuski­rche geladen – zu Gospel, Blues und Trommelklä­ngen. An alle Besucher wurden weiße Bänder mit den Namen gewaltlose­r politische­r Gefangener verteilt, etwa dem des ägyptische­n Fotojourna­listen Mahmoud Abu Zeid. Den Deutschen, die mittlerwei­le in Freiheit leben, dürfe das Schicksal von Häftlingen anderswo nicht gleichgült­ig bleiben, sagt Pfarrer Wolfgang Weinrich.

Auf der Mainzer Festmeile parkt neben dem Ratespiel zur deutsch-deutschen Grenze ein grauer Kleintrans­porter der Marke Barkas B1000, die bis zur Wende in der Karl-Marx-Stadt hergestell­t wurden. An der Außenseite klebt noch die Beschriftu­ng „Obst und Gemüse“– tatsächlic­h war der Wagen aber ein Gefangenen­transporte­r der DDR-Staatssich­erheit. Noch vor 30 Jahren konnte es auch im Osten Deutschlan­ds ausreichen, laut seine Meinung zu sagen, um abgeholt und in eine Transportz­elle gequetscht zu werden.

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FOTO: ROESSLER/DPA Ein Sinnbild für die Gräben in Deutschlan­d: Draußen stehen die Bürger und drinnen im Mainzer Dom feiern die Würdenträg­er die Einheit.

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