Oettinger fürchtet Bürgerkrieg in Spanien
Den Konflikt um das katalanische Streben nach Unabhängigkeit haben die Spanier lange Zeit nicht richtig ernst genommen. Das hat sich geändert.
MÜNCHEN (dpa) Der Konflikt um die Unabhängigkeit der spanischen Region Katalonien birgt für EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) die Gefahr eines Bürgerkrieges. „Die Lage ist sehr, sehr besorgniserregend. Da ist ein Bürgerkrieg vorstellbar, mitten in Europa“, sagte er gestern bei einer Podiumsdiskussion in München. „Man kann nur hoffen, dass zwischen Madrid und Barcelona bald ein Gesprächsfaden aufgenommen wird.“
Für Montag haben die Parteien der katalanischen Koalitionsregierung in Barcelona eine Plenarsitzung des Regionalparlaments einberufen, bei der die Unabhängigkeit ausgerufen werden könnte.
(dpa) Die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien, lange Zeit als exotische „Provinzposse“abgetan, sorgt für eine immer größere Beunruhigung. Viele warnen sogar vor einem Bürgerkrieg. „Die Angst wächst“, schrieb der angesehene Kolumnist Joan Tapia in der Zeitung „El Periódico“. Und auch der Druck auf die EU und die Zentralregierung in Madrid, die weiterhin Gespräche mit den Separatisten ablehnen, wächst.
Nur vier Tage vor einer Plenarsitzung des Regionalparlaments in Barcelona, bei der am Montag die Erklärung der Abspaltung von Spanien erwartet wurde, hätte Mariano Rajoy sich sicher eine bessere Nachricht gewünscht. Kein Geringerer als Ex-Regierungschef José María Aznar (1996-2004), ein „Schwergewicht“in Rajoys konservativer Volkspartei PP, rief den Ministerpräsidenten dazu auf, das Problem endlich zu lösen – oder aber seinen Platz im Palacio de la Moncloa zu räumen und Neuwahlen auszurufen.
Wer hätte das vor kurzem gedacht, dass der Erzkonservative Aznar und die linke Partei Podemos, die zur Konfliktlösung ebenfalls neue Wahlen fordert, fast auf einer Linie schwimmen würden? Klar, Aznar drängt auf ein hartes Durchgreifen gegen die Separatisten, Podemos-Chef Pablo Iglesias will dagegen Dialog. Ebenso wie die Sozialisten (PSOE), die zweitstärkste Kraft im Nationalparlament. PSOEChef Pedro Sánchez sagte vor einigen Tagen, er werde Rajoy „dazu zwingen“, mit den Katalanen eine Vereinbarung auszuhandeln. Aznar, Iglesias, Sánchez – sie alle gehen im Namen der besorgten spanischen Volksseele auf die Barrikaden. Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage des Forschungsinstituts CIS wuchs der Anteil der Spanier, die sich wegen Katalonien große Sorgen machen, zwischen Mitte August und Mitte September um das Dreifache auf knapp acht Prozent. Und da wussten die Befragten noch nicht, dass die katalanische Regionalregierung von Carles Puigdemont gegen Vetos des Verfassungsgerichts und Madrids tatsächlich ihr „verbindliches Referendum“über eine Unabhängigkeit durchziehen würde.
Das „Ja“-Lager gewann am Sonntag klar. Die Gegner der Unabhängigkeit blieben den Urnen aber mehrheitlich fern.
Grund zur Sorge gibt es. In Madrid blickten gestern viele besorgt gen Himmel, als Kampfflugzeuge mit großen Lärm über ihre Köpfe hinwegflogen. Die Zahl der Touristen geht in Katalonien, der von Ausländern meistbesuchten Region Spaniens, seit einigen Tagen zurück.
Viele befürchten in Spanien auch, dass die Aktionen der Katalanen den Unabhängigkeitsbewegungen in Regionen wie dem Baskenland und Galicien Auftrieb verschaffen könnten. Auf die Abgeordneten der im Baskenland regierenden Nationalistenpartei PNV – die einen unabhängigen Staat anstrebt, sich aber bisher weniger radikal als ihr katalanisches Pendant präsentiert – ist Rajoys Minderheitsregierung in Madrid unter anderem zur Durchsetzung des Haushalts von 2018 angewiesen. Der baskische Regierungschef Iñigo Urkullu warnte Rajoy mehrfach vor einem harten Eingreifen in Katalonien. Zuletzt rief er den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zur Vermittlung auf. Nach Artikel 4 des EU-Vertrages dürfen sich die EU-Institutionen jedoch nicht in innere Angelegenheiten eines Staates einmischen. Gegen den Willen Madrids könnten sie nur dann eingreifen, wenn Spanien gegen EU-Recht oder die eigene Verfassung verstoßen würde – was derzeit nicht der Fall ist.
Die Zahl der Touristen geht in Katalonien seit einigen Tagen zurück.