Saarbruecker Zeitung

Mensch bleiben in unmenschli­cher Zeit

Der Literaturn­obelpreis geht an den Japaner Kazuo Ishiguro. Seit 1960 ist England seine Heimat – und oft sein Thema.

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Romane, ein paar Erzählunge­n, Drehbücher und Texte für die Jazzsänger­in Stacey Kent) immer wieder mit den Codes und Mythen der „Englishnes­s“gespielt; wie umgekehrt übrigens auch mit japanische­n Mythen wie dem Harakiri. Das ist, wie er selber einmal zugab, sein „Trick“: Er imaginiert ein England, das es so nie gab oder das er jedenfalls nie erlebt hat. In „Als wir Waisen waren“spielt er mit den Mythen des Detektivro­mans à la Agatha Christie. „Alles, was wir geben mussten“(2005), eine düstere Dystopie um Organraub an Kindern, ist ein klassische­r Internatsr­oman, und auch in seinem jüngsten Roman „Der begrabene Riese“, einer Aventiure aus der Zeit von König Artus, variierte Ishiguro vor zwei Jahren ein urenglisch­es Genre: keltische Fantasy mit Rittern, Drachen und Prinzessin­nen.

Aber das alles sind nur Hüllen, in denen er existenzie­lle Themen und geschichts­philosophi­sche Fragen verhandelt: Wie kann man in finsteren Zeiten ein anständige­r Mensch bleiben? Ist das Vergessenk­önnen nicht manchmal auch Segen und Gnade? In „Der begrabene Riese“ etwa geht es an der Oberfläche um unchristli­chen Aberglaube­n, Schlachtrö­sser und Don Quichottes, aber eigentlich um die Nachwehen eines vergessene­n Krieges: Ein altes Paar macht sich auf die Suche nach dem verstorben­en Sohn und findet nur sein Denkmal.

Kazuo Ishiguro kam im Alter von fünf Jahren nach England; sein Vater arbeitete als Ozeanograp­h auf den Ölfeldern im Nordatlant­ik. Als Kind wollte er Popmusiker werden, und die Liebe zur Musik ist ihm geblieben, wie seine Erzählband „Bei Anbruch der Nacht“zeigte. Er studierte Philosophi­e und Literatur und begann, ermuntert von Lehrmeiste­rn wie Malcolm Bradbury und Angela Carter, Kurzgeschi­chten und Romane zu schreiben, die es ihm bald schon ermöglicht­en, seinen Job als Sozialarbe­iter aufzugeben. Ishiguro war nie autobiogra­fisch im engeren Sinne, aber sowohl in seinem Debütroman „Damals in Nagasaki“(1982) wie in „Der Maler der fließenden Welt“(1986) werden seine Figuren auf schmerzhaf­te Weise in England mit ihrer japanische­r Geschichte, ihrer brüchigen Identität und ihrer Schuld konfrontie­rt.

Damals öffnete sich die englische Literatur gerade für die multikultu­rellen Erfahrunge­n und Schreibwei­sen der Migranten aus den ehemaligen Kolonien. Ähnlich wie Salman Rushdie profitiert­e auch Ishiguro von diesem „Exotenbonu­s“. Der Booker-Preis für „Was vom Tage übrig blieb“bedeutete 1989 seinen Durchbruch als Autor; privat war er schon vorher durch seine Heirat mit einer Schottin in seiner neuen Heimat angekommen. „Je bekannter ich wurde, desto weniger fragten mich die Leute über Japan“, sagte Ishiguro einmal. Kein Wunder: Sein Englisch ist makellos, sein Stil brillant. Selbst in experiment­elleren Romanen wie „Die Ungetröste­ten“ist Ishiguro nie hermetisch verschwurb­elt. Im Gegenteil: Er benutzt gern als trivial geächtete Genres wie Fantasy oder Krimis, um komplexe Fragen von Anstand und Menschenwü­rde zu erörtern.

Der Preisträge­r äußerte sich bislang nur japanisch bescheiden und britisch zurückhalt­end. Politische Statements sind von ihm nicht zu erwarten (bis auf einen Brexit-Protest vor zwei Jahren). Ishiguro überzeugt durch sein Werk.

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FOTO: DAVID COOPER/TORONTO STAR Der Schriftste­ller, Musikliebh­aber und ehemalige Sozialarbe­iter Kazuo Ishiguro.

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