Was macht den Front National in Lothringen so stark?
Hans-Christian Herrmann, Leiter des Saarbrücker Stadtarchivs, referiert über historische Gründe für den Aufstieg der rechtsextremen Partei.
Herr Herrmann, die rechtsextreme Partei Front National (FN) ist in Lothringen stark verankert. Wie lässt sich das historisch erklären?
HERRMANN Die Ursachen dafür liegen zum großen Teil im Strukturwandel. Mit Blick auf die Kohle- und Stahlkrise fühlten sich die Lothringer von der eigenen Politik aus Paris vernachlässigt, etwa gegenüber Nordfrankreich. In der Bevölkerung wuchs über viele Jahre ein Gefühl, zu kurz zu kommen. Dieses Gefühl verfestigte sich in den 1980er Jahren und ist auch heute noch zu spüren. Zum anderen muss man sehen, dass sich der Front National zur Partei der Elitenkritik entwickelt hat. Diese Kritik bedient das Gefühl der Lothringer, abgehängt zu werden. Während der Stahlkrise wurden auch viele Versprechungen seitens der Politik und Wirtschaft gemacht und anschließend nicht eingehalten. Der Front National setzt auf das Nationale und erklärt Krisen vereinfacht populistisch, die eigentlichen Ursachen werden nicht thematisiert.
Solche Argumente nutzen auch linksradikale Parteien. Warum bekommen sie nicht so viel Zuspruch
wie der FN?
HERRMANN Das stimmt, die Gewerkschaft CGT und die kommunistische Partei PCF boten in der Stahlkrise nationale Lösungen der Abschottung und Verstaatlichung an. Zu dieser Zeit waren beide auch sehr stark. Der Aufstieg des Front National in Lothringen deckt sich mit einer Schwächung der PCF.
Auch das Saarland ist vom Strukturwandel betroffen. Warum sind rechte Parteien hier nicht so stark?
HERRMANN Bis in den 1980er Jahren ist der Strukturwandel im Saarland gegenüber Lothringen erfolgreicher gewesen. Zwischen 1965 und 1972 sind sehr viele Firmen, insbesondere die Ford-Werke, angesiedelt worden. Somit wurden die verlorenen Arbeitsplätze weitgehend kompensiert. In Lothringen ist es zwar auch gelungen, Automobilindustrie anzusiedeln wie in Hambach mit Smart, aber verzögert und in geringerem Umfang. Vor allem aber spielt die höhere Bevölkerungsdichte und geringere Entfernungen im Saarland eine Rolle. Wie in Lothringen entstanden die neuen Arbeitsplätze nicht an den alten Montanstandorten, aber der Weg zu den neuen Arbeitsplätzen ist im Saarland kürzer.
Obwohl die Region um Nizza wirtschaftlich gut da steht, ist hier der FN sehr stark. Wie kommt das?
HERRMANN Wir haben in Deutschland zum Beispiel auch AfD-Spitzenergebnisse in Teilen von Baden-Württemberg oder in Ingolstadt, einer sehr vermögenden Stadt. Hier greifen die Themen Einwanderung und Islam. Es sind also in Lothringen und in Südfrankreich zum Teil völlig unterschiedliche Gründe, die zum gleichen Wahlverhalten führen.