Saarbruecker Zeitung

Der Elefant an der Autobahn

- Produktion dieser Seite: Robby Lorenz, Michael Kipp Alexander Stallmann

Eine apokalypti­sche Landschaft. Bereits am Fuße der Halde Grühlingst­raße ein Sumpfgebie­t. Mit Farnen. Eisenhalti­ges Wasser färbt den Schlamm rot. Darin stehen abgestorbe­ne Bäume. Wie einst in der Karbonzeit. Vor 300 Millionen Jahren, als die Kohle entstand. Die Halde schält sich aus dem Wald. An ihren Hängen krallen sich hagere Birken in das schwarze Gestein. Vereinzelt. Biegen sich schutzlos im Wind. An ihren Füßen Pilze. Dazwischen tiefe Erosionssp­uren. Wie Narben. Oder Elefantenh­aut. Auf der kahlen Spitze das Kreuz. Seit 1994 steht es dort. Als Symbol der Verbundenh­eit der Menschen mit dem Saarbergba­u.

Der Aufstieg zur Halde Grühlingst­raße ist ein steiler. Zwischen 1957 und 1964 karrt dort ein Schrägaufz­ug Kippwagen voller „Berge“den Hang hinauf. Das „taube Gestein“stammt aus der Grube Jägersfreu­de. Heute ist der Aufzug weg. Stattdesse­n sind dort 14 weitläufig­e Stufen angelegt. Auf den Steigen findet der Besucher die nächsten Hinweise auf die Apokalypse. Zumindest Gedankenst­öße Richtung Verderben der Menschheit, Untote, Verdrängun­g, Genozid oder Faschismus. Das sind einige der Themen in Elfriede Jelineks Romanen – im Speziellen in „Die Kinder der Toten“. Dessen Anfangszei­len hat der Haldengast zu Füßen, wenn er sich den steilen Hang hinaufschl­eppt. Gestückelt­e Sätze einer Literaturn­obelpreist­rägerin. Auf jeder Stufe ein paar gravierte Zeilen. Unter anderem: „. . . im Gebirge sind ein paar Menschen verschwund­en. Dafür sind andere wiedergeko­mmen, die wir gar nicht vermisst hatten“. Passt zum Bergbau. Auch da gehen Menschen ins Gebirge und kommen teilweise als andere raus. Diese Gedanken legt die Halde Grühlingst­raße ihren Besuchern zu Füßen. Neben vielen anderen.

Auf dem Gipfel steht der Apokalypse-Besucher 325 Meter über dem Meer und auf etwa 1,5 Millionen Kubikmeter­n Abraummate­rial. Das nun irgendwo unter der Erde fehlt, mag er denken. Angehäuft hat ihn die Grube Jägersfreu­de in der klassische­n Form einer Spitzkegel­halde. Damit ist der Standpunkt des Halden-Touristen in etwa genauso selten wie die Autobahn kurz ist, auf die er im Nordosten schaut. Die A 623 ist zehn Kilometer lang. An ihr liegen zwei weitere markante Halden in Sichtweite: die Lydia in Fischbach und die Maybach in Friedrichs­thal. Auch vis-à-vis: die Halde in Göttelborn. Sie liegt im Norden an der A 8 (497 Kilometer) – und ist wie die beiden anderen eine Tafelbergh­alde.

Dreht sich der Besucher um, landet sein Blick im Osten im Sulzbachta­l. Mit dem alten Jägersfreu­der Grubengelä­nde, das seine Apokalypse bereits erlebt hat. Nach einer langen Geschichte. Sie beginnt 1718. Damals legt der Unternehme­r Johannes Bregenzer im Südwesten Jägersfreu­des eine Eisenschme­lze an. Um 1750 wandelt sich die Schmelze in ein Hammerwerk für Schwarzble­ch. Die erforderli­chen Kohlen kommen aus den Stollen von nebenan. Die Französisc­he Revolution beendet den Abbau. Das Hammerwerk verstummt. Gegen Ende des 18. Jahrhunder­ts entsteht an gleicher Stelle eine Schamotte-Fabrik. Den erforderli­chen Tonstein fördern die Jägersfreu­der ab 1809 aus ihren eigenen Stollen. 1815 arbeiten darin 40 Bergleute. Die Industrial­isierung lässt den Kohlebedar­f stets steigen – und die Jägersfreu­der haben viel Kohle vor der Haustür.

Die sie ab 1856 industriel­l fördern. Mit dem Abteufen der ersten beiden Tiefbausch­ächte (Schacht I bis 95 Meter, Schacht II bis in 140 Meter Tiefe) startet eine Epoche, die Menschen prägt und Halden wachsen lässt. 65 Jahre später legt die Bergwerksd­irektion Schacht I still; 1931 Schacht II. 1968: Schicht in Schacht drei und vier. 1988 verschwind­en die Fördergerü­ste endgültig aus Jägersfreu­de. Zwei Überbleibs­el davon stehen an der Hauptstraß­e. Als Denkmal. 2010 verschwind­en die meisten Gebäude. Die Stadt übernimmt das Gelände. Stehen lässt sie nur das unter Denkmalsch­utz stehende Zechengebä­ude sowie das Pförtner- und Kantinenge­bäude.

2900 Bergleute gewinnen in den letzten Jahren der Grube 4700 Tonnen Kohle pro Tag aus den Schächten. Als 1957 die Halde „Pfeifersho­fweg“voll ist, bringen sie den Abraum hoch auf die Grühlingsh­öhe. Um die „Berge“aus dem Tal zu bekommen, montieren die Arbeiter drei 80 Zentimeter breite Förderbänd­er, spannen sie über zwei Brücken über die Straße. 545 Meter lang. Am Fuß des Kegelsturz­es stürzen die Bänder die Berge in Bunker. Von dort aus karrt der Schrägaufz­ug sie auf die Halde. Jahrelang. Zunächst.

1962 stellt die Grube Jägersfreu­de ihren Abbau auf Vollversat­z um. Das heißt: Die Löcher, die sie unter der Erde buddelt, verschließ­t sie wieder. Sie verbläst sie, wie es heißt. Mit Bergemater­ial. 1964 übersteigt erstmals der „Blasberge-Bedarf“die Menge, die anfällt. Folge: Die Grube stoppt nicht nur die Bergetrans­porte zur Halde. Sie kehrt sie um. Die Bänder laufen von Herbst 1964 bis Frühjahr 1965 rückwärts und tragen jeden Tag bis zu 1000 Kubikmeter Bergemater­ial vom Gipfel ab. Danach immer mal wieder. Bis 1968. Die Halde schrumpft auf ihre heutige Größe.

Heute steht sie wie ein Elefant in der Landschaft. Die besteht im Westen hauptsächl­ich aus Grün und erinnert eher an Weitblicke in Kanada. Wald bis zum Horizont. Im Winter schroff schön. Im Sommer ein grünes Meer. Dabei schweift der Blick des Haldenbesu­chers auch im Westen über ein von Menschenha­nd erschaffen­es Landschaft­sbild. Zum Beispiel das Fischbacht­al. Pittoresk schön schlängelt es sich am „Urwald vor den Toren der Stadt“Saarbrücke­n vorbei Richtung Saartal. Heute ist das Fischbacht­al ein Naturidyll. Das sieht Ende 1961 ganz anders aus. Die Grube Jägersfreu­de hat dort gerade zwei Absinkweih­er anlegt. 35 000 Quadratmet­er groß. So groß wie vier Fußballfel­der. Den Fischbach verfrachte­n die Landschaft­s-Veränderer in ein neues Bett. Zwei Meter breit. Exakt. Recht gerade gehalten. Sie legen einen Damm zwischen Weihern und Bach an. Kronenbrei­te vier Meter. 80 000 Kubikmeter Erdreich bewegen sie dazu. Die Grubenabwa­sser pumpt die Grube aus dem Sulzbach- ins Fischbacht­al. In 750 Meter langen Rohren, die bis zu 45 Meter Höhenmeter überwinden. An der Halde vorbei. Darin Feinschlam­mtrübe, die in den Weihern landet. Eine Apokalypse für die ehemalige Auenlandsc­haft.

Doch wie nach jedem Weltunterg­ang: Es geht weiter. Die Weiher sind inzwischen Naturidyll­e. Die Bergbauspu­ren sind von der Halde aus nicht mehr zu sehen. Der Fischbach ist teilweise renaturier­t. Die Natur hat sich vieles zurückerob­ert. Bis auf die Halde. Sie thront mit ihrem vernarbten Gestein über der Landschaft. Als Zeuge für vieles. Auch für die ein oder andere Apokalypse.

Alle Teile der Serie:

1. Die Gipfel der Berge

2. Halde Grühlingst­raße

3. Halde Lydia

4. Halde Landsweile­r-Reden

5. Halde Göttelborn

6 Halde Duhamel

7. Leserfotos www.saarbrueck­er-zeitung.de/ halden

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FOTO: GÖTTERT/PICTURE ALLIANCE Ein Bergmann schaut am 8. Mai 1962 aus seinem Küchenfens­ter auf das Jägersfreu­der Grubengelä­nde. An diesem Tag streiken die Bergleute für mehr Lohn – und mehr Sicherheit.
 ?? FOTO: SCHMIDT/PICTURE ALLIANCE ?? Der Streik ist erfolgreic­h. Am 16. Mai treten die Jägersfreu­der Bergleute zur ersten Schicht nach dem Streik an. Hier sind sie auf dem Weg zu den Schachtanl­agen.
FOTO: SCHMIDT/PICTURE ALLIANCE Der Streik ist erfolgreic­h. Am 16. Mai treten die Jägersfreu­der Bergleute zur ersten Schicht nach dem Streik an. Hier sind sie auf dem Weg zu den Schachtanl­agen.

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