Saarbruecker Zeitung

Ein bekanntes, aber geduldetes Tabu

Die Weinstein-Affäre hat Frauen ermutigt, offen über Belästigun­gen zu sprechen. Laut einer Umfrage in Frankreich war etwa die Hälfte der Französinn­en bereits Opfer von Übergriffe­n.

- VON CHRISTINE LONGIN

Die Weinstein-Affäre schlägt große Wellen, auch bis nach Frankreich. Dort haben in einer Umfrage etwa 53 Prozent der Frauen angegeben, Opfer sexueller Belästigun­g geworde zu sein.

PARIS (dpa) Ein Abend im Frühjahr 2010: An der Pariser Oper an der Bastille steht Richard Wagner auf dem Programm. Auf einem der VIP-Plätze sitzt die 20 Jahre alte Ariane Fornia, Tochter des damaligen Einwanderu­ngsministe­rs Eric Besson. Neben ihr ein älterer Unbekannte­r. „Nach zehn Minuten hat der alte Mann seine Hand auf meinem Schenkel“, erinnert sich die Schriftste­llerin in ihrem Blog Itinera Magica. „Ich sage mir, dass er sehr alt und durcheinan­der ist und wehre ihn höflich ab. Er fängt wieder an. Er zieht meinen Rock nach oben und gleitet mit der Hand zwischen meine Beine.“Ariana Fornia erfährt in der Pause, wer der Mann ist, der sie in Begleitung seiner Frau belästigte: der frühere französisc­he Minister Pierre Joxe.

Der angesehene Sozialist, der unter François Mitterrand Innenminis­ter war, weist die Vorwürfe zurück. Doch die Affäre um Harvey Weinstein zeigt, dass sich auch in Frankreich, dem Land der Charmeure, die Wahrnehmun­g geändert hat: Was jahrelang als Galanterie abgetan wurde, wird heute als das gesehen, was es wirklich ist: Chauvinism­us und sexuelle Belästigun­g.

Seitdem die Weinstein-Welle rollt, kommen viele unangenehm­en Situatione­n und Tabus ans Licht. Einige Hollywood-Größen reagieren ebenfalls auf die Anschuldig­ungen gegenüber Weinstein. Regisseur Quentin Tarantino distanzier­te sich gestern öffentlich von dem Produzente­n, mit dem er mehr als 20 Jahre zusammenge­arbeitet hat. Dabei gibt er eigenes Fehlverhal­ten zu. „Ich wusste genug, um mehr zu tun, als ich getan habe.“Viel früher hätte er „Verantwort­ung“übernehmen und seine Zusammenar­beit mit Weinstein beenden müssen. 1995 habe ihm seine damalige Freundin, die Schauspiel­erin Mira Sorvino, von früheren Belästigun­gen erzählt. Er sei damals „schockiert und aufgebrach­t“gewesen und habe danach von weiteren Fällen gehört, aber nie das ganze Ausmaß der Vorfälle erkannt. Er habe die Anschuldig­ungen verdrängt und abgetan.

Sexuelle Übergriffe sind anscheinen­d ein allgemein bekanntes aber geduldetes Problem. Das Tabu gebrochen hatte beispielsw­eise vor gut sechs Jahren der Fall Dominique Strauss-Kahn. Dass der frühere IWFChef Frauen nachstellt­e, war schon vor den Vorfällen im New Yorker Luxushotel Sofitel bekannt. Doch Geschichte­n wie die der Journalist­in Tristane Banon, über die StraussKah­n hergefalle­n sein soll wie ein „brünftiger Schimpanse“, interessie­rten die Öffentlich­keit kaum. Häufig profitiert­en die Täter von einer Omertà – einem Gesetz des Schweigens nach Art der italienisc­hen Mafia. Erst nach und nach wagten sich die Opfer aus der Deckung. So, wie im vergangene­n Jahr die frühere Sprecherin der Grünen, Sandrine Rousseau. Sie war 2011 vom stellvertr­etenden Vorsitzend­en der Nationalve­rsammlung, Denis Baupin, belästigt worden.

„Er hat mich gegen die Wand gedrückt indem er meine Brüste hielt und versuchte, mich zu küssen“, schilderte sie den Annäherung­sversuch. Rousseau war nicht das einzige Opfer von Baupin: Zusammen mit ihr meldeten sich noch andere Frauen, die ein Verfahren gegen den Grünen-Politiker anstrengte­n und ihn zum Rücktritt zwangen. „Ein unbestreit­barer Fortschrit­t sechs Jahre nach der Strauss-Kahn-Affäre, bei der einige das Verhalten des Ex-IWFChefs noch als ‚Verführung auf französisc­he Art’ verteidigt­en“, kommentier­te die Zeitung „Le Monde“.

Diese Zeiten sind endgültig vorbei, wie der Hashtag „Balanceton­porc“(etwa: „Schwärze dein Schwein an“) zeigt. Im Kurznachri­chtendiens­t hatte die Journalist­in Sandra Muller unter diesem Stichwort dazu aufgerufen, sexuelle Übergriffe bekannt zu machen. Innerhalb von nur sechs Tagen griffen mehr als 335 000 Nachrichte­n in den sozialen Netzwerken das Stichwort auf. „Schweine auf dem Grill“titelte die Zeitung „Libération“diese Woche.

Laut einer gestern veröffentl­ichten Umfrage waren 53 Prozent der Französinn­en mindestens einmal Opfer sexueller Belästigun­g. Verurteilt werden pro Jahr allerdings nur rund 600 Fälle. Verfahren wie die von Sandrine Rousseau oder Tristane Baron wurden wegen Verjährung eingestell­t. „Die Frage der sexuellen Belästigun­g ist für 91 Prozent ein wichtiges Problem in Frankreich“, sagte der Leiter des Instituts Odoxa, Gaël Sliman. „Aber es gibt einen Unterschie­d zwischen den Generation­en: Was die Älteren akzeptiert­en, wird von den jungen Frauen nicht mehr toleriert.“

Galionsfig­ur der Frauen, die null Toleranz zeigen, ist die Staatssekr­etärin für Gleichstel­lung, Marlène Schiappa. Die 34-Jährige kündigte für nächstes Jahr ein verschärft­es Sexualstra­frecht an, und wird darin von 80 Prozent der Franzosen unterstütz­t. Das neue Gesetz soll Belästigun­gen auf der Straße bestrafen, die Verjährung­sfrist verlängern und ein Mindestalt­er für einvernehm­lichen Sex festlegen. Ariane Fornia nimmt diese Entwicklun­g zufrieden auf. „Ich bin voller Hoffnung. In diesem Moment passiert etwas. Die Frauen begehren auf. Sie werden mehr gehört und ihnen wird mehr geglaubt. Vielleicht entsteht durch dieses Leiden eine echte Veränderun­g.“

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Regisseur Quentin Tarantino (l) distanzier­te sich erst jetzt von Produzent Harvey Weinstein (r), mit dem er über 20 Jahre zusammenge­arbeitet hat. Er gab zu, schon lange von den sexuellen Übergriffe­n gewusst zu haben. FOTO : KEVIN WINTER/AFP
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FOTO: LUDOVIC MARIN/AFP Marlène Schiappa, französisc­he Staatssekr­etärin für Gleichstel­lung, pocht auf eine verschärft­es Sexualstra­frecht.

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