Saarbruecker Zeitung

„Das wird zu Revolten, zu Aufständen führen.“

Der Journalist und Regisseur über seine Deutschlan­d-Doku „Reise in den Herbst“, die er heute in Saarbrücke­n vorstellt.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE TOBIAS KESSLER.

SAARBRÜCKE­N Wohin steuert Deutschlan­d? Der Journalist und Regisseur Martin Keßler (63) hat für seinen Film „Reise in den Herbst – alles wie gehabt oder Zeitenwend­e?“Deutschlan­d 2017 bereist: Er war beim Treffen der Rechtspoli­tiker in Koblenz, beim G20-Gipfel in Hamburg, bei der Beerdigung Helmut Kohls in Speyer und bei der Wahlparty der AfD am Tag der Bundestags­wahl. Heute Abend stellt Keßler seinen Film in Saarbrücke­n vor.

Ihr Film fragt im Titel „Alles wie gehabt oder Zeitenwend­e?“– der Film lässt eher Letzteres vermuten, oder?

KESSLER Ja, in jedem Fall. In dem Langzeitpr­ojekt „Neue Wut“beschäftig­e ich mich seit elf Jahren, als der Widerstand gegen die Agenda 2010 begann, mit sozialen Protestbew­egungen. Ich habe mich gefragt: Geht dieser Protest jetzt nach rechts? Es ist ja nicht nur ein deutsches Phänomen, mit Trump, mit dem Brexit. Da wollte ich schauen, wohin das in diesem Wahljahr führt. Ich bin nach Koblenz zu dem Treffen der europäisch­en Rechtspopu­listen gefahren – so fing der Film an. Ich würde durchaus von einer Zeitenwend­e sprechen, von einem Rechtsruck, der auch das bisherige parlamenta­rische System in Frage stellt – auch wenn gerade in den letzten Monaten vor der Wahl versucht wurde, das wohlige Gefühl zu vermitteln, dass alles so bleiben kann wie es ist, dass alles gut läuft.

Dieses Gefühl teilen offensicht­lich nicht alle Wähler.

KESSLER Nein, der Einzug der AfD in den Bundestag hat klargemach­t, dass sich nicht nur im Parteiensp­ektrum etwas ändert, sondern insgesamt in der Politik – ähnlich wie es damals beim Entstehen der Linksparte­i war, die ja auch keine Eintagsfli­ege war.

Sie glauben nicht, dass die AfD bald wieder verschwind­et?

KESSLER Nein. Ich glaube und fürchte, dass sich die Partei nachhaltig etabliert und sich ein neues rechtes elitäres Denken entwickelt, das auch für bürgerlich­e Kreise noch unbedenkli­cher und salonfähig­er wird. Da kommen Dinge wieder hoch, von denen man hoffte, dass sie nie wiederkomm­en: das Nationalis­tische, das Männerbünd­ische, das Völkische. Vielleicht setzt ja ein Schrumpfun­gsprozess ein, wenn sich die Protestwäh­ler abwenden, aber ganz weg vom Fenster wird die Partei nicht sein. Untersuchu­ngen besagen, dass auch viele Bürgerlich­e die AfD wählen, weil sie ihren Status gefährdet sehen: durch eine Wirtschaft, die etwa durch Digitalisi­erung und Globalisie­rung immer unüberscha­ubarer wird. Es sind nicht nur die sogenannte­n Abgehängte­n, die die AfD wählen.

Der Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e, der Bundespräs­identenkan­didat der Linken, sagt im Film, man könne rechte Strömungen am besten durch soziale Gerechtigk­eit bekämpfen.

KESSLER Ja, das sagt auch Siemens-Vorstand Joe Kaeser. Eine Art Grundeinko­mmen müsste die Menschen absichern bei diesen Verwerfung­en, bei dieser industriel­len Revolution, die die Digitalisi­erung ja ist. Der Ruck nach Rechts hat damit zu tun, dass wir den Wohlstands­zuwachs nicht gerecht verteilt haben. Verteilung­sgerechtig­keit ist die zentrale Frage. Knapp 20 Prozent der Bevölkerun­g muss mit Niedrigloh­n auskommen, es gibt eine Wohnungsno­t, absurd steigende Mieten – wenn dann Migranten kommen, haben viele Leute Angst, dass sie teilen müssen, obwohl es ihnen selbst schon schlecht geht. Siemens baut gerade 1000 Stellen im Osten ab, und die Opel-Übernahme durch PSA wird auch zu Entlassung­en führen. Das wird noch eine ganz andere Dimension annehmen.

Der Soziologe Jean Ziegler, der dem Menschenre­chtsrat der UN angehört, spricht im Film vom „Endkampf des Klassenkam­pfes“.

KESSLER In der Formulieru­ng finde ich das übertriebe­n, ich würde seine Hauptkriti­k aber teilen, dass wir in einer „kannibalis­chen Weltordnun­g“leben, in einem Finanzfeud­alismus, der dazu führt, dass viele Millionen hungern oder verhungern, während andere den Hals nicht vollkriege­n können. Das stimmt natürlich. Wir haben mit unserem deutschen Exportmode­ll ja auch Anteil daran. Wenn es nicht geändert wird, ist die liberale Demokratie in Gefahr. Denn solch eine kannibalis­che Weltordung kann man nur mit autoritäre­n Mitteln aufrechter­halten. Das zeigt auch der größte Polizeinsa­tz in der deutschen Geschichte gegen die Proteste beim G20-Gipfel in Hamburg.

Ihr Film kommentier­t wenig, aber dass Sie die Musik vom Trauermars­ch bei Helmut Kohls Beerdigung mit den Bildern des Polizeiauf­marschs in Hamburg verbinden, ist schon auffällig.

KESSLER Ich will illustrier­en, dass die offene, liberale demokratis­che Gesellscha­ft in Gefahr ist, was man auch in Polen, in Ungarn, in den USA sieht. Wenn man nicht wieder mehr soziale Gerechtigk­eit etabliert, drängen sich autoritäre Lösungen auf, weil man den Laden sonst nicht mehr unter Kontrolle behält. Denn es tun sich massive Bruchstell­en auf – zum Beispiel zwischen dem Wunsch, den konsumisti­schen Lebensstil fortzusetz­en und dem massiven Verlust von Arbeitsplä­tzen infolge der Digitalisi­erung. Oder eine immer dramatisch­ere Umweltzers­törung als Folge unseres Wirtschaft­ens. Bei einem Teil der Bevölkerun­g wird das zu massiven Wohlstands­verlusten führen. Und einen kleinen Teil noch reicher machen. Auf Dauer werden sich die Menschen das nicht gefallen lassen. Das zeigt die bisherige Geschichte. Das wird zu Revolten, Aufständen führen.

Der Tod Helmut Kohls hat im Film fast eine symbolisch­e Bedeutung. Ob man ihn nun sehr schätzte oder weniger – er verkörpert­e eine Form von beruhigend­er Verlässlic­hkeit, nach der sich viele sehnen.

KESSLER Kohl war für mich ein Symbol des so genannten „rheinische­n Kapitalism­us“– ein Kapitalism­us, der auf sozialen Ausgleich ausgericht­et ist. Da gab es zum Beispiel noch eine Vermögenss­teuer, und der Spitzensat­z in der Einkommens­steuer lag bei 53 Prozent statt bei heute 42 Prozent. Das waren Zeiten, in denen der Wind der Globalisie­rung nicht ganz so rau geweht hat wie heute und die Gesellscha­ft sozial nicht so gespalten war. Teile dieses „rheinische­n Kapitalism­us“funktionie­ren in unserem alten gewachsene­n System noch – viele Industriea­rbeiter etwa bekommen noch einen guten Lohn, aber andere fallen durch das Raster, da wird es prekär – da gehöre ich als Regisseur, der solche Filme macht, durchaus dazu. Es trifft viele Menschen, man sieht in Frankfurt viele teure Geländewag­en und gleichzeit­ig immer mehr Leute, die in Mülleimern wühlen. Da kann man nicht so tun, als würde dieser rheinische Kapitalism­us noch für alle gelten. Das ist der Betrug.

Auch ein AfD-Politiker könnte sich Ihren Film anschauen, ohne dass er anschließe­nd von „Lügenpress­e“reden oder in die beliebte Opferrolle flüchten könnte. Sie kommentier­en nicht, lassen auch André Poggenburg von der AfD über „Genderwahn­sinn“und über angebliche­n Linksextre­mismus in der Gesellscha­ft reden – vertrauen Sie auf ein mündiges Publikum?

KESSLER Natürlich. Das ist auch der richtige Weg, wie man jetzt mit der AfD umgehen sollte – mit den Leuten diskutiere­n, vor allem mit deren Wählerscha­ft. Sie nur zu Parias zu machen und zu stigmatisi­eren, wird nicht weiterhelf­en.

Wo war es Ihnen bei den Dreharbeit­en mulmiger? In Koblenz bei Marine Le Pen, Geert Wilders und Frauke Petry oder bei der AfD-Wahlparty und Gaulands Jagdaufruf auf die neue Regierung?

KESSLER Ich fand beides etwas befremdlic­h. Was ich aber als bedrohlich empfand, war, wie bei der AfD-Party das Deutschlan­dlied geradezu gegrölt wurde, da kommt wieder so etwas aggressiv Männerbünd­isches hoch. Was als Tendenz aber allgemein auffällt, ist die Inszenieru­ng von Politik. In Koblenz wurde mit theatralis­cher Musik aufmarschi­ert – genauso wie beim Einzug von Martin Schulz beim SPD-Parteitag, wo er dann mit 100 Prozent gekrönt worden ist. Das sind Inszenieru­ngen, die die Leute für dumm verkaufen wollen, manchmal mit Erfolg. Im Film taucht ja mehrmals ein SPD-Mann auf, der sagt „Umfragen interessie­ren nicht, wir werden gewinnen!“. Das ist eine Art von Realitätsv­erweigerun­g, von magischem Denken. Werbeagent­uren, die sich normalerwe­ise um Waschmitte­l kümmern, werben jetzt für eine Partei. So ist dann auch der politische Diskurs. Und das finde ich für die Demokratie bedrohlich­er als irgendein Aufmarsch mit Fahnen, wo sofort klar ist, dass das nur Show ist.

Der AfD-Politiker André Poggenburg sagt im Film „AfD wirkt“– sehen sie das so?

KESSLER Ja, die AfD hat in der Flüchtling­sfrage die anderen Parteien vor sich hergetrieb­en. Es ist ein schleichen­der Prozess, dass eine Gesellscha­ft nach rechts rückt, ohne dass man das deutlich wahrnimmt, weil das Allerschli­mmste dann eben doch nicht eintritt. Anfang des Jahres fürchtete man, dass Marine Le Pen und Geert Wilders an die Macht kommen – im Endeffekt haben sie das nicht geschafft, aber dennoch den Diskurs in ihren Ländern nach rechts verschoben. Der Rechtspopu­lismus ist nicht an uns vorübergeg­angen, da darf man auch nicht nur auf eine Partei wie die AfD schauen, man muss das gesamteuro­päisch sehen. Siehe Österreich ganz aktuell.

Ihr Film ist mit 140 Minuten ungewöhnli­ch lang – und damit im heutigen Fernsehen nicht zeigbar.

KESSLER Die Räume für Formate, die Inhalte länger und komplexer erklären wollen, sind deutlich enger geworden. Das sehe ich durchaus als Teil einer Entwicklun­g bei den Medien, in der es vor allem um Aktualität, Hypes und um kurze Formate geht. Das lässt im Öffentlich-Rechtliche­n Fernsehen immer mehr einen Verlautbar­ungsund Skandaljou­rnalismus hochkommen. Für Analytisch­eres gibt es immer weniger Platz. Lieber bietet man in den vielen Talkshows Politikern eine immer größere Fläche, um sich öffentlich zu inszeniere­n. So etwas, was wir machen, wird immer seltener. Heute Abend läuft der Film ab 18.30 Uhr im Großen Saal der Arbeitskam­mer des Saarlandes (Fritz-Dobisch-Straße 6-8, Saarbrücke­n). Danach Diskussion mit dem Regisseur. Der Eintritt ist frei. Informatio­nen: www.arbeitskam­mer.de und www.neuewut.de.

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FOTO: HALLER/DPA Wasserwerf­ereinsatz der Polizei gegen Demonstran­ten am 7. Juli 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg.
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FOTO: THOMAS FREY/DPA Es wehen die Fahnen: Der Kongress der rechtspopu­listischen ENF-Fraktion am 21. Januar in Koblenz: mit Frauke Petry (l-r), Marine Le Pen, Matteo Salvini, Geert Wilders, Harald Vilimsky und Marcus Pretzell.
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FOTO: KESSLER FILMPRODUK­TION Journalist und Filmemache­r Martin Keßler.

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