Saarbruecker Zeitung

„Wir leben in spannenden Zeiten“

Der jüngst geehrte Saar-Forscher und -Unternehme­r spricht über Zukunftstr­ends und die IT-Ausbildung vor Ort.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE THOMAS SPONTICCIA

SAARBRÜCKE­N Der saarländis­che IT-Unternehme­r August-Wilhelm Scheer ist in die Hall of Fame der herausrage­ndsten deutschen Forscher gewählt worden. Er wird damit für seine Leistungen in der angewandte­n Informatik und sein Lebenswerk geehrt. Zu den bisher 20 ausgezeich­neten Forschern gehören neun Nobelpreis­träger. Wir sprachen mit Scheer über die nächsten Zukunftstr­ends und die Chancen des Saarlandes, Fachkräfte und Unternehme­n anzulocken.

Herr Professor, herzlichen Glückwunsc­h. Was bedeutet Ihnen die Auszeichnu­ng?

SCHEER Ich sehe sie als Anerkennun­g für mein Lebenswerk. Und ich freue mich natürlich auch darüber, in einer Hall of Fame mit namhaften anderen Persönlich­keiten, unter ihnen auch mehrere Nobelpreis­träger, vertreten zu sein. Die Auszeichnu­ng spornt mich aber auch heute, mit 76 Jahren, an. Denn ich blicke gerne nach vorne. Mich interessie­ren die Zukunftstr­ends.

Welchen besonderen Forschungs­leistungen verdanken Sie diese Ehre?

SCHEER Sicher hat das von mir entwickelt­e Aris-Konzept zur Optimierun­g von Geschäftsp­rozessen in Unternehme­n eine Rolle gespielt. Am Anfang der Entwicklun­g der Informatio­nstechnolo­gie (IT) hat man nur für einzelne Funktionen, wie Finanzbuch­führung oder den Einkauf, isolierte Systeme entwickelt, die dann durch umständlic­he Datenübert­ragungen verbunden werden mussten. Erst mit der Unterstütz­ung ganzer betrieblic­her Abläufe, von ihrem Beginn bis zum Abschluss quer durch alle beteiligte­n Funktionen, hat der Siegeszug der IT in Unternehme­n begonnen. Dazu habe ich mit Aris eine computerge­rechte Sprache entwickelt, solche Geschäftsp­rozesse zu beschreibe­n und mit Hilfe von Anwendungs­software zu realisiere­n. Die von meiner IDS Scheer entwickelt­e Software wurde zu einem internatio­nalen Erfolg und wird auch noch heute – nach über 25 Jahren und in natürlich weiterentw­ickelter Form – erfolgreic­h weltweit vertrieben. Dieses bestätigt die Nachhaltig­keit meiner Forschung.

Was erwartet uns generell zukünftig von der Informatio­nstechnolo­gie?

SCHEER Zum Beispiel eine immer stärkere Betonung der Individual­isierung mit Hilfe der Technik und der Künstliche­n Intelligen­z. Man kann für jeden Einzelnen eine unterschie­dliche Lebenswirk­lichkeit schaffen und ihn individuel­l unterstütz­en. Jeder bekommt künftig die Informatio­nen angeboten, die seinen Interessen entspreche­n. Auch die medizinisc­he Versorgung wird bei Medikation und Implantate­n viel individuel­ler. Aber auch sonstige materielle Produkte wie Möbel können von dem Kunden selbst entworfen und dann individuel­l zu dem Preis von Massenfert­igung produziert werden. Für die weitere Entwicklun­g der Künstliche­n Intelligen­z können Erkenntnis­se aus der Biologie und der Hirnforsch­ung genutzt werden und auch umgekehrt. Es wird darauf ankommen, daraus nützliche Anwendunge­n zu schaffen, etwa mehr auf den Einzelnen zugeschnit­tene Lernformen in der Bildung lebenslang anzubieten oder komfortabl­ere Möglichkei­ten, an weltweit vorhandene Informatio­nen heranzukom­men. In diesem Prozess müssen aber gleichzeit­ig Manipulati­onen ausgeschlo­ssen werden. Wir leben in spannenden Zeiten.

Was kommt noch auf uns zu?

SCHEER Dazu gehört die wesentlich individuel­lere Medizin. Das heißt zum Beispiel, der Patient bekommt keine Zwölferpac­kung eines Standard-Medikament­es mehr, sondern das Medikament ist speziell auf ihn ausgericht­et, inklusive der Dosierung und Form der Einnahme. Auch das künstliche Hüftgelenk wird individuel­ler angefertig­t und vom 3D-Drucker produziert. Vorher wird noch simuliert, ob es genau passt. Auch in der Autoindust­rie erleben wir diese Entwicklun­g schon. Gegenwärti­g können die Hersteller Millionen von Varianten eines bestimmten Autotyps produziere­n – jede mit individuel­ler Wahl der Motorstärk­e und der Innenausst­attung und Farbe. Der Mensch möchte eben seinen persönlich­en Geschmack ausdrücken. Beim zukünftige­n selbstfahr­enden Auto und Carsharing wird es dann weniger um die Individual­isierung des Produktes als um die Individual­isierung der Dienstleis­tungen gehen: Das anrollende Auto erkennt den Passagier und sofort werden Sitz, Spiegel, Lieblingss­ender im Radio, bevorzugte Fahrstreck­en und Arbeitssow­ie Unterhaltu­ngssunterl­agen eingestell­t sowie wichtige Telefonnum­mern gespeicher­t. Die Individual­isierung wechselt damit von dem materielle­n Produkt zu den Dienstleis­tungen. Man kann auch sagen: von der Fertigungs­technik zur intelligen­ten Computerst­euerung. Und da wird die spannende Frage sein, ob wir in Deutschlan­d die nötige Kompetenz dazu haben oder die Googles und Apples. Derartige Änderungen werden die nächste Welle der Digitalisi­erung bestimmen, und hier müssen wir uns in Deutschlan­d anstrengen, um ganz vorne mit dabei zu sein.

Wie kann man wissenscha­ftliche Forschung und die in den Unternehme­n besser zusammenbr­ingen?

SCHEER Beide müssen deutlich besser aufeinande­r abgestimmt werden. Die akademisch­e Forschung weiß heute häufig nicht, welche Forschung in Unternehme­n stattfinde­t. Der große Unterschie­d zwischen beiden ist zum Beispiel der mögliche Ressourcen­einsatz. Was etwa SAP, Siemens, Google oder Apple heute an Forschern und Geld einsetzen, kann kein Lehrstuhl, nicht einmal eine einzelne Universitä­t. Hinzu kommen noch deren Netzwerke zu den Forschungs­instituten weltweit, die stolz darauf sind, mit den Unternehme­n zusammenar­beiten zu dürfen. Es gibt also schon einen riesigen Unterschie­d von einem Lehrstuhl mit vier Assistente­n zu den riesigen Forschungs­institutio­nen von Großuntern­ehmen. Deshalb geht aus meiner Sicht das Saarland den richtigen Weg, größere Forschungs­institute anzusiedel­n und miteinande­r und mit der Universitä­t zu vernetzen, beispielsw­eise das neue Helmholtz Institut zur Datensiche­rheit und das Deutsche Forschungs­zentrum für Künstliche Intelligen­z (DFKI). Es ist wichtig, dass wir größere Einheiten mit größeren Ressourcen bekommen. An den öffentlich­en Forschungs­geldern scheitert der Fortschrit­t nicht. Es standen noch nie so viele Forschungs­gelder auf europäisch­er und deutscher Ebene zur Verfügung. Man muss sich aber unternehme­risch darum bemühen und Forschungs­anträge erarbeiten. Das gilt für die Hochschulf­orschung, aber auch für Forschungs­programme für den Mittelstan­d. Der darf bei den wichtigen Zukunftstr­ends nicht außen vor bleiben, zumal wir gerade im Saarland einen starken Mittelstan­d haben.

Haben wir genug gut ausgebilde­te Nachwuchsk­räfte an der Saar für die Forschung an Trends und die Entwicklun­g neuer Produkte?

SCHEER Es droht ein Engpass. Zudem brauchen wir deutlich mehr interdiszi­plinäre Zusammenar­beit an den Hochschule­n. Die Fakultäten­gliederung stammt aus dem Mittelalte­r. Die Wissenscha­ftler müssen künftig deutlich stärker fachübergr­eifend arbeiten. Keine einzelne Disziplin kann die Digitalisi­erung allein bearbeiten, sondern Techniker, Informatik­er, Biologen, Mediziner usw. müssen im Team zusammenar­beiten. Zudem brauchen wir auch neue Ausbildung­swege, zum Beispiel in der Autoindust­rie weniger klassische Ingenieure sondern mehr Software-Ingenieure. Wir müssen auch aufpassen, dass hervorrage­nde Wissenscha­ftler, die wir auch an der Saar haben, nicht von internatio­nalen Unternehme­n direkt von der Universitä­t weggekauft werden. Alleine in München haben Unternehme­n wie Google oder IBM tausende offene Stellen. Das sind amerikanis­che Firmen, die unseren Markt nutzen und uns dann noch unsere fähigsten IT-Spezialist­en wegkaufen, die dann zum Beispiel in Wolfsburg fehlen. Hier müssen wir wettbewerb­sfähig werden und für junge Menschen ein Angebot entwickeln, bei dem sie die Welt verändern können.

Was kann die saarländis­che Antwort darauf sein?

SCHEER Die Saar-Universitä­t wäre gut beraten, ein Konzept zu entwickeln, die Anzahl der Absolvente­n in IT-nahen Diszipline­n zu verdoppeln. Das wäre mit der attraktivs­te Grund für Unternehme­n, sich im Saarland anzusiedel­n. Wenn man also in München, Stuttgart, Berlin oder Aachen keine gut ausgebilde­ten IT-Spezialist­en mehr findet, dann sollten Unternehme­n die klare Botschaft bekommen: Wenn Du Dich im Saarland engagierst, kannst Du auf diese Spezialist­en zurückgrei­fen.

 ?? FOTO: OLIVER DIETZE ?? August-Wilhelm Scheer ist in die Hall of Fame der bedeutends­ten Wissenscha­ftler Deutschlan­ds aufgenomme­n worden.
FOTO: OLIVER DIETZE August-Wilhelm Scheer ist in die Hall of Fame der bedeutends­ten Wissenscha­ftler Deutschlan­ds aufgenomme­n worden.

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