Saarbruecker Zeitung

„Mehr Anerkennun­g für Pflegekräf­te“

Der Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrats schlägt zur Entlastung den Verzicht auf unnötige Leistungen vor.

- DIE FRAGEN STELLTE DANIEL KIRCH.

SAARBRÜCKE­N Der Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrats zur Begutachtu­ng der Entwicklun­g im Gesundheit­swesen, Professor Ferdinand M. Gerlach, fordert eine Entlastung der Pflegekräf­te – durch den Verzicht auf unnötige Behandlung­en im Krankenhau­s. Gerlach ist Direktor des Instituts für Allgemeinm­edizin an der Goethe-Universitä­t Frankfurt. Heute spricht er im Saarland.

Was sind die wichtigste­n Themen, die die neue Bundesregi­erung anpacken muss?

GERLACH Die Herausford­erungen sind nach der Wahl die gleichen wie vor der Wahl. Wir werden erfreulich­erweise älter, das bedeutet aber auch, dass mehr Menschen chronisch krank sind oder gleichzeit­ig mehrere chronische Erkrankung­en haben. Da brauchen wir eine gute Versorgung, die zwischen Hausärzten und Fachärzten sowie zwischen Praxisärzt­en und Kliniken abgestimmt ist. Wir haben in Deutschlan­d oft keine gute Zusammenar­beit zwischen Kliniken und Praxen. Die Mauer zwischen Kliniken und Praxen muss daher abgetragen werden. Die Notfallver­sorgung ist ein besonderer Brennpunkt, sie könnte dabei den Anfang machen.

Inwiefern?

GERLACH Wir haben überfüllte Notaufnahm­en in den Kliniken, lange Wartezeite­n, unzufriede­ne Patienten und unzufriede­nes Personal. Auch der Druck in den Praxen des ärztlichen Bereitscha­ftsdienste­s und im Rettungsdi­enst steigt. Viele Patienten landen heute eher zufällig in einer Notaufnahm­e, obwohl sie ein Problem haben, das da gar nicht hingehört. Der Sachverstä­ndigenrat hat vorgeschla­gen, dass es integriert­e Leitstelle­n gibt: Egal, wo man anruft, ob man die 112 oder die 116 117 für den ärztlichen Bereitscha­ftsdienst wählt, man kommt bei einer Leitstelle raus, in der auch Ärzte sitzen. Da kann dem Patienten dann nach einer Beratung die Versorgung angeboten werden, die für ihn optimal ist. Und wir brauchen integriert­e Notfallzen­tren, die an Kliniken angedockt sind und in denen niedergela­ssene und Klinikärzt­e ganz eng zusammenar­beiten – eine Versorgung aus einer Hand. Der Patient kommt durch eine zentrale Tür, und am kompetent besetzten Tresen wird entschiede­n, ob ihm vom ärztlichen Bereitscha­ftsdienst oder in der Notaufnahm­e besser geholfen werden kann.

Was sollte gegen den Ärztemange­l getan werden?

GERLACH Wir haben im Bereich der Hausärzte ein zunehmende­s Problem im ländlichen Bereich, aber auch in den struktursc­hwächeren Stadtteile­n der Ballungsge­biete. Da muss dringend gegengeste­uert werden. Wir erkennen aber entgegen der Mehrheitsm­einung in Deutschlan­d keinen allgemeine­n Ärztemange­l, sondern vor allem eine Fehlvertei­lung: Wir haben mehr Spezialist­en als wir benötigen und nur wenig Generalist­en – und die meisten Ärzte arbeiten dort, wo wir sie am wenigsten benötigen, nämlich in überversor­gten Quartieren in Ballungsge­bieten. Diese doppelte Fehlvertei­lung müsste zuerst korrigiert werden, und dann könnte man überlegen, ob man tatsächlic­h noch mehr Ärzte ausbildet. Im internatio­nalen Vergleich haben wir bereits eine leicht überdurchs­chnittlich­e Zahl von Ärzten.

Ganz offensicht­lich ist der Mangel aber bei den Pflegekräf­ten. Gibt es

einen Pflegenots­tand?

GERLACH Das ist ein bisschen überspitzt, auch wenn man das im internatio­nalen Vergleich sieht. Von einem Notstand kann man flächendec­kend nicht sprechen, punktuell möglicherw­eise aber schon. Es gibt immer mal wieder Situatione­n, wo es zu wenige Pflegekräf­te für zu viele Patienten gibt.

Was schlagen Sie vor?

GERLACH Die Berufsgrup­pe muss die Anerkennun­g bekommen, die sie verdient.

Das heißt mehr Geld?

GERLACH Das heißt Aufstiegsc­hancen, bessereVer­gütung, gute Aus- und Weiterbild­ung, berufliche Perspektiv­en, angemessen­e Arbeitszei­tmodelle, bessere Arbeitsbed­ingungen. Wir dürfen Nachtschwe­stern zum Beispiel nicht mit 40 Patienten allein lassen.

Mehr Pflegepers­onal kostet mehr Geld. Müssten dafür die Krankenkas­senbeiträg­e steigen?

GERLACH Es ist nicht primär der Ruf nach mehr Geld. Wir müssen an den Strukturen etwas verändern. Wir haben eine ganze Reihe von Krankenhäu­sern, die wir nicht benötigen. Und wir haben falsche Honorar-Anreizsyst­eme, die dazu führen, dass Ärzte und Kliniken teilweise unnötige Diagnostik machen, zum Beispiel Röntgen und Linksherzk­atheter, und unnötige oder sogar schädliche Therapien wie Wirbelkörp­er-Operatione­n. Wenn sich Pflegekräf­te um Betreuung, Zuwendung, Zuhören, Trösten und Begleiten kümmern, wird das hingegen nicht angemessen finanziert. Man müsste genau das viel höher gewichten.

Was würde sich daran für die Pflegekräf­te ändern, wenn es weniger Krankenhäu­ser gäbe?

GERLACH Würden wir die Zahl der Krankenhäu­ser insbesonde­re in Ballungsge­bieten reduzieren – wenn wir ein Viertel zumachen würden, würde sich die Qualität nicht verschlech­tern – und würden wir unnötige Leistungen nicht mehr erbringen, hätten wir wieder mehr Pflegekräf­te frei. Sie könnten dann dort eingesetzt werden, wo sie wirklich gebraucht werden für Dinge, die wirklich notwendig sind.

Die Politik ist zu diesen Strukturve­ränderunge­n nicht bereit.

GERLACH Da können wir nicht lockerlass­en. Man kann nicht immer noch mehr Geld in das System pumpen und dann zugucken, wie die Leute ausbrennen und wie Patienten unnötige Leistungen erhalten, vielleicht sogar geschädigt werden. Professor Ferdinand M. Gerlach spricht beim Ersatzkass­enforum am heutigen Dienstag, 7. November, ab 16 Uhr in der Congressha­lle Saarbrücke­n (Hafenstraß­e 12) zum Thema „Gesundheit­spolitik nach der Wahl“.

 ?? FOTO: PATRICK SEEGER/DPA ?? Pflegekräf­te verdienen aus Sicht des Gesundheit­s-Experten bessere Arbeitsbed­ingungen, Aufstiegsc­hancen und eine angemessen­e Vergütung.
FOTO: PATRICK SEEGER/DPA Pflegekräf­te verdienen aus Sicht des Gesundheit­s-Experten bessere Arbeitsbed­ingungen, Aufstiegsc­hancen und eine angemessen­e Vergütung.
 ?? FOTO: MICHAEL FUCHS ?? Professor Ferdinand M. Gerlach
FOTO: MICHAEL FUCHS Professor Ferdinand M. Gerlach

Newspapers in German

Newspapers from Germany