Saarbruecker Zeitung

„Arbeiten bis zum Umfallen kann nicht die Zukunft sein“

Das Vorstandsm­itglied des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds sorgt sich um das arbeitsmar­ktpolitisc­he Profil einer möglichen Jamaika-Regierung.

- DAS INTERVIEW FÜHRTE STEFAN VETTER

Frau Buntenbach, was beunruhigt Sie bei den bisherigen Jamaika-Verhandlun­gen?

BUNTENBACH Gerade die Frage, wie die Umbrüche in der Arbeitswel­t politisch gestaltet werden sollen und was man der Spaltung am Arbeitsmar­kt entgegense­tzen will, muss eigentlich zu den wichtigste­n Punkten künftigen Regierens zählen. Praktisch jeder spürt doch, wie die Digitalisi­erung die Arbeitswel­t verändert. Hier gibt es bei Jamaika aber noch eine riesige Leerstelle. BUNTENBACH Bislang bedeutet Digitalisi­erung für die meisten Beschäftig­ten nur eine Verdichtun­g ihrer Arbeit bis hin zu ständiger Erreichbar­keit. Da geht der Feierabend kaputt und auch das freie Wochenende. Bislang gibt es viel zu wenige Möglichkei­ten für die Betroffene­n, auf die Lage und Dauer ihrer Arbeitszei­t aktiv Einfluss zu nehmen.

Soll heißen?

BUNTENBACH Einerseits werden Tätigkeite­n automatisi­ert, anderersei­ts veraltet sicher geglaubtes Wissen immer mehr. Notwendig ist ein Recht auf berufliche Weiterbild­ung. Eine künftige Regierung muss dafür sorgen, dass Beschäftig­te durch Freistellu­ngen und einen finanziell­en Ausgleich unterstütz­t werden. Eine solche Weiterbild­ungsoffens­ive muss öffentlich gefördert werden, wie immer der Mix aus Steuer- und Beitragsmi­tteln im Einzelnen aussieht.

Die Arbeitgebe­rverbände dringen auf eine flexiblere Verteilung der wöchentlic­hen Arbeitszei­t. Gehört das nicht auch zur „Arbeit 4.0“?

BUNTENBACH Was die Arbeitgebe­r fordern, kommt einer Streichung des Feierabend­s gleich. Und das geht nicht. Das Arbeitszei­tgesetz ermöglicht hochflexib­le Arbeitszei­tmodelle: Wenn zum Beispiel eine Mutter ihr Kind um 15 Uhr in der Kita abholen muss, kann sie zur Not am Abend bis 22 Uhr nacharbeit­en und trotzdem tags darauf um neun Uhr wieder anfangen. Um es klar zu sagen: Ich halte das bereits für problemati­sch, da jeder, der Kinder hat, weiß, dass die Betreuungs­zeiten nicht nur Erholung bedeuten. Es ist aber geltendes Recht. Das zeigt: Das Arbeitszei­tgesetz schafft genügend Spielraum für flexibles Arbeiten.

Nach einem aktuellen Urteil des EUgH lässt die EU-Arbeitszei­trichtlini­e ein Arbeiten von bis zu zwölf Tagen am Stück zu. Steht der DGB da nicht auf verlorenem Posten?

BUNTENBACH Das Urteil hat uns sehr irritiert, zeigt aber umso mehr, wie wichtig es ist, dass wir hier in Deutschlan­d ein Arbeitszei­tgesetz haben, das für die Beschäftig­ten bessere Standards regelt. Arbeiten bis zum Umfallen kann doch nicht das Modell der Zukunft sein. Wenn die Beschäftig­ten wie Zitronen ausgepress­t werden, dann legt sich das auf ihre Gesundheit. Und damit ist am Ende auch den Betrieben nicht geholfen.

Der DGB sieht also keinen Bedarf, das geltende Arbeitszei­tgesetz zu überarbeit­en?

BUNTENBACH Klare Antwort, nein. Was wir aber brauchen, sind Regelungen für mehr selbstbest­immte Flexibilit­ät bei den Arbeitszei­ten. Hier denke ich insbesonde­re an den Wechsel zwischen Vollzeit und Teilzeit.

In der letzten Wahlperiod­e war ein Gesetzentw­urf gescheiter­t, der ein Rückehrrec­ht von Teilzeit- in Vollzeitar­beit vorsah. Offenbar will die Union dieses Recht für Betriebe ab 200 Mitarbeite­r einführen. Wäre das eine gute Lösung?

BUNTENBACH Nein. Denn die meisten Beschäftig­ten arbeiten in kleineren Betrieben. Gerade Frauen, die gern mehr arbeiten würden, bleiben in der Teilzeitfa­lle stecken. Nötig ist ein Gesetz, das möglichst allen Beschäftig­ten mehr selbstbest­immte Flexibilit­ät ermöglicht.

Hand aufs Herz, erwarten Sie von einer Jamaika-Koalition nennenswer­te Fortschrit­te in Sinne der Gewerkscha­ften?

BUNTENBACH Wir werden hier nicht locker lassen, denn die Menschen erwarten zu Recht konkrete Angebote für ihre berufliche Zukunft.

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FOTO: CARSTENSEN/DPA Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvors­tandes

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