„Ich kann sie nicht mehr ausstehen, diese Geschichten“
Um Paris macht er einen großen Bogen, nicht aber um Saarbrücken – hier hat der Schweizer Autor Peter Bichsel nun gelesen.
und, wie im „Milchmann“, über den verschiedenen Bedeutungsebenen des Verbs „kennen“zu brüten. Der Milchmann, Frau Blum, ihre zwei Liter Milch, ihre 100 Gramm Butter und ihr verbeulter Topf – wer in den 80er Jahren die Gymnasialbank drückte, ist auf ewig verbichselt.
Heute, mit 82 Jahren, blickt der Schweizer Meister der kurzen Form mit eidgenössischem Schalk auf seine für Textanalyse und -Interpretation missbrauchten Erzählungen. Und auch aus seinem Amüsement über Germanisten, die glauben, die Deutungshoheit über seine Texte zu haben, machte er kein Hehl bei seiner Lesung auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Ludwig Hofstätter. Allein, den großen Kinosaal der Camera Zwo hätte es dafür am Donnerstag nicht gebraucht: Viele Reihen blieben licht. Leider, denn mit seinem Schwyzerdütsch und seiner reflektierten, gemächlichen Art ist Bichsel ein charmanter Unterhalter, der immer noch spontan genug ist, sich nicht festzulegen.
Angekündigt war eine Lesung aus seinem Kolumnenband „Über das Wetter reden“; stattdessen pflückte Bichsel impulsiv Geschichten und Kolumnen aus einem ganzen Stapel von Büchern, darunter sein berüchtigtes Debüt „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“oder „Im Hafen von Bern im Frühling“. Und so wurde man Zeuge der beiläufigen Erzählkunst dieses bekennenden Sozialisten und Pessimisten: genoss den stillen Witz seiner Alltagsbeobachtungen, die von einem gelassenen Über-denDingen-Stehen künden und nach assoziativen Verknüpfungen und übermütigen Gedankenvolten in verschmitzten Zirkelschlüssen münden; bewunderte, wie kurze Hauptsätze bedeutungsschwangere Zäsuren im Redefluss setzen.
Gerne beschwört Bichsel auch Sehnsuchtsorte, wie etwa im Erzählband „Zur Stadt Paris“. Hierzu verblüffte er mit der Aussage: „Ich war nie in Paris, und ich wollte nie nach Paris. Wenn Sehnsüchte erfüllt werden, führt das meist zu einer riesigen Enttäuschung.“Sorgen bereitet ihm, dass das Erzählen („Wenn man etwas nicht sagen kann, muss man‘s erzählen“) gefährdet sei. Erzählt werde nur noch Sport: nach dem Spiel, in der Kneipe, in der Zeitung. Wäre er Journalist, säße er im Sportressort: „Feuilletonkultur interessiert mich nicht. Da kann man nicht erzählen.“