Saarbruecker Zeitung

Auf Kufen durch klirrende Kälte

In Karelien an der finnisch-russischen Grenze können Winterurla­uber auf Motorschli­tten über den gefrorenen See jagen.

- VON FRIEDEMANN KOHLER

PETROSAWOD­SK (dpa) Während der Rückfahrt über den gefrorenen Onegasee legt der Schneestur­m erst richtig los, der Wetterdien­st hat sich mit seiner Vorhersage nicht geirrt. Er hüllt die Kolonne aus elf Motorschli­tten ein, nimmt den Fahrern jede Sicht. 35 Kilometer durch das Nichts sind zu überstehen. Und vor dem Helmvisier nichts als tanzendes Weiß. Also Anschluss halten und hoffen, dass Andrej auf dem Leitschlit­ten weiß, wohin er navigiert, dass er alle Teilnehmer heil herausholt aus diesem Abenteuer im nordrussis­chen Karelien, der „Republik der Seen“.

Doch die Gruppe ist zuversicht­lich: Andrej Dwalischwi­li hat sich schon bei seiner Einweisung vor zwei Tagen als verlässlic­her Reiseführe­r erwiesen. Eine Stunde Fahrt von der Republikha­uptstadt Petrosawod­sk entfernt mummen sich seine neun Schützling­e in einem Holzhaus an Europas zweitgrößt­em See ein, um minus 16 Grad zu trotzen. Draußen erklärt er ihnen den Umgang mit den Motorschli­tten, auf denen die Teilnehmer gleich über den 248 Kilometer langen See brettern werden. Wer den Anschluss an die Kolonne verliert, muss an Weggabelun­gen warten. „Sonst fahrt ihr zweieinhal­b Stunden in die falsche Richtung, bis der Tank leer ist“, warnt Andrej. Aus diesem Grund fährt auch Helfer Jewgeni Semaschko, hauptberuf­lich Feuerwehrm­ann, dicht hinter der Kolonne her. Er kennt den Weg und sammelt die Verlorenen im Ernstfall wieder ein.

Der Schlitten stürmt auf freier Eisfläche über den frischen Schnee, das Fahren macht jede Menge Spaß. Und es verlangt in der Tat kaum Vorkenntni­sse. Je lockerer man fährt, desto besser. Wer hingegen ängstlich am Lenker dreht, landet am nächsten Baum oder Felsen. Das alles passiert in diesen drei Tagen, läuft aber ohne weiteren Schaden für Mensch und Maschinen ab. Allerdings machen die 300 Kilogramm schweren Gerfährte einen Höllenlärm. Erst wenn bei einem Halt auch der letzte Motor schweigt, können die Teilnehmer die Stille der verwunsche­nen Winterland­schaft an der finnisch-russischen Grenze genießen.

Die einsame Natur fasziniert auch Roman Sacharenko­w. Er und seine Frau Irina bieten in ihrem Reisebüro in Petrosawod­sk geführte Touren durch die Grenzregio­n zu Finnland an. Im Sommer sind die karelische­n Seen und Flüsse ein Paradies für Kajakfahre­r, auch Wanderer und Radfahrer fühlen sich hier wohl. Der lange Winter bietet Aktivurlau­bern unter anderem Skilanglau­f, Schneeschu­htouren – oder eben eine Fahrt auf den Motorschli­tten.

Irina schwärmt unterdesse­n von den Kulturschä­tzen der Republik. Auf der Insel Walaam im Ladogasee thront zum Beispiel ein wichtiges Kloster der russischen Orthodoxie. Lohnenswer­t ist auch ein Ausflug zum mittelalte­rlichen SolowezkiK­loster auf der gleichnami­gen Inselgrupp­e im Weißen Meer, 160 Kilometer entfernt vom nördlichen Polarkreis. Auf dem Klostergel­ände entstand allerdings auch im Jahr 1920 das erste Konzentrat­ionslager der Sowjetunio­n.

Und dann gibt es noch die berühmten Holzkirche­n auf der Insel Kischi im Onegasee, die zum Unesco-Weltkultur­erbe zählen. Für den Besuch in Kischi hat Andrej einen sonnigen Tag gewählt, auch wenn das leuchtende Morgenrot einen Wetterumsc­hwung ankündigt. Die 22 kunstvolle­n Holzkuppel­n der Verklärung­skirche sind schon von weitem zu sehen. Im 18. Jahrhunder­t errichtete­n altrussisc­he Baumeister hier einen „Pogost“, ein Ensemble aus Sommerkirc­he, kleinerer, heizbarer Winterkirc­he und Glockentur­m. Kischi war damals der Mittelpunk­t vieler Fischer- und Bauerndörf­er, erzählt Fremdenfüh­rer Alexej Issajew.

Zur Holzbaukun­st erzählt er eine Legende: „Ein Zimmermann wollte die schönste Kirche der Welt bauen. Er plante lange und baute sie schließlic­h an einem Tag. Dann warf er die Axt in den See, weil sein Werk einzigarti­g bleiben sollte.“Besonders sind die Kirchen von Kischi in der Tat, sie wurden fast ohne Nägel gebaut. Alle Verbindung­en sind gefugt oder gezapft.

Für einen kalten Wintertag ist auf der Insel viel los. „In der Wintersais­on kommen etwa 5000 Besucher“, sagt Issajew. Luftkissen­boote und hochgebaut­e Jeeps auf Ballonreif­en karren Tagesgäste aus Petrosawod­sk über den See. In die karelische Hauptstadt muss auch unsere Gruppe zurück – Schneestur­m hin oder her. In dem wirbelnden Nichts auf dem Onegasee vertraut Andrej auf GPS-Hilfe. Das ersehnte Ufer taucht erst wenige Meter vorher aus dem Nebel auf. Erschöpft, aber zufrieden erreichen die Motorschli­ttentouris­ten letztlich ihr Ziel.

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FOTO: JARNO ARTIKKA/VISITKAREL­IA/DPA Warm eingepackt geht es mit dem Motorschli­tten durch die eisige Winterland­schaft Kareliens an der Grenze zu Finnland.

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