Saarbruecker Zeitung

Luxemburg rechnet mit Bevölkerun­gsexplosio­n

In Luxemburg wird sich die Bevölkerun­gszahl bis 2060 einer neuen Prognose zufolge verdoppeln. Wie soll das gehen, wenn auf der kleinen Fläche hunderttau­sende Menschen dazukommen? Die Entwicklun­g wird auch am Saarland nicht spurlos vorübergeh­en.

- DIE FRAGEN STELLTE DANIEL KIRCH

LUXEMBURG Das Großherzog­tum boomt. Die Einwohnerz­ahl wird sich nach einer Prognose der Statistikb­ehörde bis 2060 in etwa verdoppeln. Dabei sind der Wohnungsma­rkt und der öffentlich­e Personenna­hverkehr in Luxemburg schon heute am Limit. Markus Hesse, Professor für Stadtforsc­hung an der Universitä­t Luxemburg, ist skeptisch, wie das Wachstum verkraftet werden soll.

Die Einwohnerz­ahl in Luxemburg soll sich in den nächsten Jahren verdoppeln. Wo sollen diese Leute eigentlich alle arbeiten?

HESSE Auf dem Kirchberg sind Mitarbeite­r vieler Nationen tätig, bei Banken, Investment­fonds, Unternehme­nsberatung­en und Anwaltskan­zleien oder als Programmie­rer, nicht nur aus den Nachbarlän­dern, sondern weltweit rekrutiert. Es gibt die Bestrebung der Regierung zu diversifiz­ieren, neue Felder zu erschließe­n: Materialwi­ssenschaft, Nanotechno­logien, es gibt dieses noch etwas obskure Projekt des Weltraumbe­rgbaus. Man steht in Verhandlun­gen mit Google über die Ansiedlung eines Rechenzent­rums.

Das Wachstum geht ja nur mit massiver Zuwanderun­g. Woher kommen die Zuzügler?

HESSE Die Hälfte der Tagespendl­er sind heute Franzosen, jeweils ein Viertel sind Belgier und Deutsche. Die Franzosen und die Portugiese­n sind die stärksten Gruppen derjenigen Migranten, die in Luxemburg wohnen. Es gibt Gemeinden im Zentrum des Landes mit 8000 bis 10 000 Einwohnern, in denen gibt es über 100 Nationen. Das ist extrem bunt gemischt.

Irgendwo müssen die Hunderttau­senden, die als neue Einwohner ins Land kommen sollen, ja auch wohnen. Wie soll das gehen?

HESSE Das weiß keiner. Das Land ächzt jetzt schon. Was im Moment an Infrastruk­turpolitik gemacht wird, ist mindestens zur Hälfte das Nachholen von Versäumnis­sen der vergangene­n 20 Jahre. Die alten Regierunge­n haben relativ wenig gemacht, die haben höchstens Straßen ausgebaut. Wie das in der Zukunft laufen soll, weiß überhaupt niemand. Im Moment sieht man deutlich, wie der Druck im Kessel steigt.

Wenn Wohnungen in Luxemburg fehlen, steigt der Druck auf die Verkehrsac­hsen, weil die Menschen dann einpendeln müssen.

HESSE Im Moment ist beides – Wohnen und Verkehr – längst über dem Limit dessen, was funktionie­ren kann. Darunter leidet die Lebensqual­ität. Speziell die Hauptstadt behauptet von sich immer, dass sie in Sachen Lebensqual­ität etwas zu bieten hat. Morgens gibt es einen unglaublic­hen Zustrom in die Stadt, nachmittag­s ist der große Exodus. Das bringt natürlich auch Umweltbela­stungen mit sich, die Lärmbelast­ung ist extrem. Mir ist zum Beispiel nicht bekannt, dass systematis­ch an Lärmminder­ungsplänen gearbeitet würde.

Der öffentlich­e Nahverkehr könnte die Last nicht aufnehmen?

HESSE Man hätte schon vor zehn Jahren die Grundsubst­anz im Eisenbahnn­etz erweitern oder überhaupt erst wiederhers­tellen müssen. Man hätte auch schon vor zehn Jahren anfangen müssen, auf den Autobahnen Busspuren einzuricht­en. Das ist aber außerorden­tlich unpopulär: So schnell kann man nicht zubauen, man hätte dem Autoverkeh­r also eine Spur wegnehmen müssen. Mit diesen Mengen kann Luxemburg nicht gleichzeit­ig ökonomisch erfolgreic­h sein und die Lebensqual­ität erhalten. Dass man alle Gruppen gleichzeit­ig glücklich machen kann, ist eine Illusion.

Was bedeutet das Bevölkerun­gswachstum für Schulen und Kitas?

HESSE Die Mehrsprach­igkeit allein ist schon eine gigantisch­e Herausford­erung, mit der das Schulsyste­m nur begrenzt umgehen kann. Verstärkt kommt Englisch hinzu. Es gibt heute Lyzeen, die Chinesisch anbieten. Dies alles ist extrem schwer zu organisier­en. Es gibt das Gerücht, dass man Google angeboten hat, den Englisch-Unterricht an den Grundschul­en massiv auszubauen, wenn das Unternehme­n sich entschließ­en sollte, hierher zu kommen. Das ist ein Riesenspag­at, den man hier macht.

Im Saarland gibt es eine völlig andere demografis­che Entwicklun­g. Es gibt jetzt schon viele Leute, die in Luxemburg arbeiten und in Perl oder Mettlach wohnen. Was bedeutet das alles für das Saarland?

HESSE Im Grunde bräuchte man, um beim Beispiel Wohnen zu bleiben, eine abgestimmt­e Strategie für die Großregion. Dazu müsste man sich an einen Tisch setzen. Wenn ich das richtig höre aus der Großregion, wissen die Nachbarlän­der und -regionen nicht so richtig, was Luxemburg vorhat. Wenn das so ist, ist das ein großes Problem.

Wohnen in Luxemburg selbst ist nicht mehr bezahlbar?

HESSE Wenn Sie in der Hauptstadt ein Haus suchen, ist das im sechsstell­igen Bereich schon nicht mehr machbar. Das treibt die Leute entweder

in eine gigantisch­e Verschuldu­ng, wobei die Banken sehr restriktiv in der Kreditverg­abe sind, oder die Menschen landen letztendli­ch in Perl. Die müssen jeden Morgen nach Luxemburg reinfahren, das ist natürlich schwierig. Es wird angedacht, Telearbeit­splätze im grenznahen Bereich diesseits oder jenseits der Grenze anzusiedel­n, so dass die Leute nicht mehr in die Stadt müssen. Das hat aber eine Konsequenz für die Steuererhe­bung, weil die Leute dafür im Land ansässig und anwesend sein müssen.

Für schrumpfen­de saarländis­che Dörfer, in denen sich die Frage stellt, ob in Zukunft die Infrastruk­tur noch bezahlt werden kann, ist das doch eine Riesenchan­ce.

HESSE Wir haben uns das in Trier genauer angesehen. Da gibt es Vorbehalte. Die Luxemburge­r haben da ein bestimmtes Image: dass sie die Preise verderben. Das Problem ist: Immer dann, wenn sie den Arbeitspla­tz in Luxemburg behalten, was in aller Regel der Fall sein wird, müssen sie sich einreihen in die große Wanderung. Unsere Anregung ist zu sagen: Verständig­t euch in der Großregion über das Thema Wohnen, und natürlich über den Verkehr. Aber die Probleme sind in Luxemburg schon so groß, dass man alles andere gar nicht mehr richtig auf dem Schirm hat.

Im Saarland leben auch eine Million Menschen, auf einer Fläche, die so groß ist wie die in Luxemburg.

HESSE Unser Infrastruk­turministe­r nennt das Saarland immer als Beispiel dafür, dass man auf einer vergleichb­aren Landesfläc­he locker eine Million Menschen unterbring­en kann. Aber der Vergleich hinkt.

Warum?

HESSE Weil sich die beiden Regionen historisch vollkommen unterschie­dlich entwickelt haben und weil die Konzentrat­ionsdynami­k in Luxemburg eine andere ist. Hier will man unbedingt eine Hauptstadt­adresse haben, die großen Unternehme­n gehen alle in die Kernbereic­he.

Was wäre der ungünstigs­te Fall? Dass Luxemburg unter dem Wachstum der Bevölkerun­g irgendwann kollabiert?

HESSE Wenn man die Bevölkerun­gsentwickl­ung exponentie­ll fortschrei­bt und jedes Jahr drei bis vier Prozent drauflegt, ist es eindeutig, dass im Verkehrsbe­reich irgendwann nichts mehr gehen wird. Beim Wohnen sind die Immobilien­preise am Limit. Das bedeutet, es wird sehr viel mehr Konflikte geben. Man ist hier geneigt, alles im Konsens zu regeln, man versucht, allen Zielgruppe­n gerecht zu werden. Aber das wird dann nicht mehr gehen.

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FOTO: ULLSTEIN Bei den Banken, Investment­fonds und Unternehme­nsberatung­en auf dem Kirchberg arbeiten schon heute viele Zuwanderer.
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SZ-INFOGRAFIK/BHB/QUELLE: STATEC
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FOTO: HESSE Markus Hesse, Professor für Stadtforsc­hung an der Universitä­t Luxemburg

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