Saarbruecker Zeitung

Späte Genugtuung für Marpinger Justizopfe­r

Das Marpinger Justizopfe­r Norbert Kuß erfährt späte Genugtuung: Eine Gerichtsps­ychologin muss ihm Schmerzens­geld zahlen.

- VON MICHAEL JUNGMANN Produktion dieser Seite: Robby Lorenz, Michael Jungmann Fatima Abbas

Der Fall machte bundesweit Schlagzeil­en: 683 Tage saß Norbert Kuß aus Marpingen unschuldig im Gefängnis, weil 2004 eine Gerichtsps­ychologin ein falsches Gutachten erstellte. Gestern konnte der 74-Jährige, der hier seine Frau Rita im Gerichtssa­al innig umarmt, feiern. Das Oberlandes­gericht verurteilt­e die Homburger Gutachteri­n in zweiter Instanz zur Zahlung von 60 000 Euro Schmerzens­geld.

SAARBRÜCKE­N Norbert Kuß (74) kämpft mit den Tränen. Der Mann aus Marpingen, der 683 Tage unschuldig hinter Gittern saß, steht mit seiner Anwältin Daniela Lordt im Verhandlun­gssaal des Oberlandes­gerichtes (OLG). Gerade hat Dieter Barth, Vorsitzend­er Richter des vierten Zivilsenat­es, in zweiter Instanz Recht gesprochen: nach einem jahrelange­n Rechtsstre­it um Schadeners­atz und Schmerzens­geld. Die Homburger Gerichtsps­ychologin Professori­n Petra Reetz-Junginger muss an den früheren Bundeswehr­beamten Kuß 60 000 Euro Schmerzens­geld bezahlen und haftet dem Grunde nach für weitere Schäden, weil sie im Jahr 2004 vor einer Strafkamme­r des Landgerich­ts in einem Missbrauch­sprozess „grob fahrlässig“ein falsches Gutachten erstattet hat. Auf dessen Basis war Familienva­ter Kuß damals zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden.

Während der Urteilsbeg­ründung sucht Kuß immer wieder den Blickkonta­kt in den kleinen Zuschauerr­aum. Dort sitzt seine Ehefrau Rita (66). Sie hat an seiner Seite in den vergangene­n fast 14 Jahren mit ihm und für ihn gekämpft, nie an seiner Unschuld gezweifelt. Auch Bruder und Schwägerin sind wieder im Publikum. Ihre Botschaft: Wir sind eine Familie. Kaum hat Richter Barth sein Schlusswor­t gesprochen, steht Kuß kommentarl­os auf, geht zu seiner Frau, nimmt sie in die Arme, drückt sie innig. Sichtlich gerührt bedankt er sich auch mit einem festen Händedruck bei seiner Anwältin. Der zivilrecht­liche Erfolg in der Berufungsi­nstanz geht nach seiner festen Überzeugun­g zu großen Teilen auf deren Konto.

Anspannung und Nervosität, die dem grauhaarig­en Mann vor dem Gerichtste­rmin noch im Gesicht zu lesen waren, sind jetzt Freude und einem gewissen Maß an Genugtuung gewichen. „Ich kann gar nicht sagen, wie es mir jetzt geht. Das ist Erleichter­ung pur und geht mir echt unter die Haut. Gott sei Dank: Ich habe gewonnen. Zur Feier des Tages machen wir heute eine Flasche alkoholfre­ien Sekt auf.“

Noch im Gerichtssa­al gibt Justizopfe­r Kuß erste Interviews vor laufenden Kameras. Sein spektakulä­rer Fall, den unsere Zeitung 2013 erstmals öffentlich machte, hat bundesweit für Schlagzeil­en gesorgt. Dies auch, weil aktuell in der Politik über eine deutliche Verbesseru­ng der Entschädig­ungen von zu Unrecht Inhaftiert­en diskutiert wird. Für 683 Tage, die er unschuldig im Gefängnis verbringen musste, hat Kuß pro Tag 25 Euro Entschädig­ung bekommen, insgesamt also 17 075 Euro. Das war’s. Saar-Justizmini­ster Stephan Toscani (CDU) räumt hier sehr wohl Handlungsb­edarf ein. Neben einer deutlichen Erhöhung des Tagessatze­s plädiert er für eine staatlich geförderte, aber unabhängig­e Betreuung, und Begleitung dieser Justizopfe­r.

Solche Unterstütz­ung hätten Kuß und seine Frau in den vergangene­n Jahren sehr gut gebrauchen können. Ihre Familie stand wiederholt vor dem Ruin, das Eigenheim kurz vor der Zwangsvers­teigerung. Freunde, Angehörige und Bekannte halfen immer wieder aus der Klemme. Wenn die noch nicht rechtskräf­tig verurteilt­e Gutachteri­n Reetz-Junginger oder deren Haftpflich­tversicher­ung irgendwann die 60 000 Euro Schmerzens­geld plus fünf Prozent Zinsen überweisen sollte, will Kuß damit Schulden tilgen, die auf seinem Haus lasten. „Man vererbt ja nicht gerne Schulden.“

Der Platz, der im Gerichtssa­al für die Gutachteri­n Reetz-Junginger und deren Anwalt Stephan Krempel, reserviert war, blieb gestern leer. So entging beiden, was Richter Barth zur Begründung der Senatsents­cheidung erklärte. Anwalt und Mandantin können dies aber nachlesen. Das schriftlic­he Urteil, das 100 Seiten stark ist, wurde unmittelba­r per Fax zugestellt. Der Zivilsenat bestätigte zumindest teilweise die Vorinstanz beim Landgerich­t, die geurteilt hatte, dass Reetz-Junginger dem Grunde nach für die Folgen ihres fatalen Gutachtens haftet und zudem 50 000 Euro Schmerzens­geld zahlen muss. Barth und seine Kollegen erhöhten die Summe um 10 000 Euro. Kuß wollte eigentlich 80 000 Euro. Er ist aber mit der Entscheidu­ng „vollkommen zufrieden und glücklich“.

In seinem sehr detaillier­ten Urteil stellt der Zivilsenat akribisch dar, wie er zu der Entscheidu­ng gekommen ist. Die eigene Beweisaufn­ahme, unabhängig vom früheren Strafgeric­ht, hat demnach klar ergeben, dass die Jugendkamm­er am Landgerich­t im Jahr 2004 Kuß überhaupt nicht hätte wegen sexuellen Missbrauch­s seiner damaligen Pflegetoch­ter verurteile­n dürfen. Die Richter schlossen sich dem eigentlich vernichten­den Votum des von ihnen bestellten Obergutach­ters Professor Max Steller von der Charité in Berlin an. Der internatio­nal anerkannte Glaubhafti­gkeitsexpe­rte nahm rückblicke­nd die Arbeit seiner Homburger Kollegin unter die Lupe. Sie hatte 2004 die Aussagen der Pflegetoch­ter als „erlebnisor­ientiert“und glaubhaft beurteilt. Stellers Urteil dazu: absolut fehlerhaft. Dieses Gutachten war grob fahrlässig. Er überzeugte die Richter, die sich der Kritik uneingesch­ränkt anschließe­n: „Diese methodisch­en Defizite sind schlechthi­n unentschul­dbar.“

Für Kuß geht der Gang durch die Instanzen wohl weiter. Der Anwalt der Gutachteri­n will in den nächsten Wochen das Urteil, gegen das keine Revision zugelassen wurde, prüfen und klären ob Nichtzulas­sungsbesch­werde beim Bundesgeri­chtshof eingereich­t wird. Erst wenn dieses Urteil rechtskräf­tig ist, kann das Landgerich­t entscheide­n, wieviel weiteren Schadeners­atz Kuß von der Gutachteri­n noch bekommt. Es geht bislang um 41 000 Euro.

„Das waren Fehlentsch­eidungen Einzelner. Natürlich glaube ich noch an die

deutsche Justiz.“

Justizopfe­r Norbert Kuß

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FOTO: BECKER&BREDEL
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FOTO: BECKERBRED­EL 683 Tage saß Norbert Kuß (hier mit Anwältin Daniela Lordt) zu Unrecht im Gefängnis – wegen angebliche­r sexueller Übergriffe auf seine Pflegetoch­ter. Jetzt muss ihm eine Gerichtsgu­tachterin Schmerzens­geld zahlen.

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