Saarbruecker Zeitung

Der Siegeszug der Kurznachri­chtendiens­te und sozialen Netzwerke führt zu einer neuen Unverbindl­ichkeit.

Der Siegeszug der Kurznachri­chtendiens­te und sozialen Netzwerke führt zueiner neuen Unverbindl­ichkeit.

- VON MARTINA KIND

SAARBRÜCKE­N „Nein, Donnerstag klappt’s nicht. Wie wär’s mit nie? Passt Ihnen nie?“Diese Zeilen aus einem Cartoon, der 1993 in dem USamerikan­ischen Magazin „The New Yorker“veröffentl­icht wurde, scheinen so gültig wie noch nie. Man könnte sie noch ein wenig anreichern, etwa mit einem „Nie? Da muss ich mal eben nachschaue­n und melde mich dann später bei Ihnen“– wenngleich „später“in diesem Fall gleichbede­utend ist mit „nie“: Das Musterbeis­piel für eine Terminabsp­rache über soziale Netzwerke. Völlig unverbindl­ich.

Die meisten Menschen verabreden sich heutzutage über Kurznachri­chtendiens­te wie Whatsapp oder Facebook Messenger – falls sie es denn überhaupt tun. Eine Umfrage des Digitalver­bands Bitkom ergab, dass sich mehr als 80 Prozent der Internetnu­tzer in Deutschlan­d zwischen zwölf und 18 Jahren lieber über soziale Netzwerke mit ihren Freunden unterhalte­n als sich im echten Leben auszutausc­hen. Vielleicht, weil sie ahnen, dass ohnehin eine Absage in letzter Sekunde droht? Oder sie schon vorab wissen, dass sie spontan doch keine Zeit oder Lust haben werden. Und dann nur beiläufig eine kurze Nachricht, ein unprätenti­öses „Sorry, kann doch nicht, lass verschiebe­n“, ins Smartphone tippen müssen, während der andere schon am vereinbart­en Treffpunkt wartet. Die Gründe spielen keine Rolle, ist halt so.

Digital Natives, also Vertreter der sogenannte­n Generation Y, die ab dem Jahr 1980 geboren wurden und mit dem Internet und sozialen Netzwerken aufgewachs­en sind, kennen dieses Phänomen. Diese nonchalant­e Unverbindl­ichkeit, mit der Treffen nach einem ewigen Hin und Her von Nachrichte­n vereinbart werden, um später nicht zustande zu kommen. Wer sich alle Möglichkei­ten offen halten und die Unannehmli­chkeiten einer Absage gleich ersparen möchte, der legt sich am besten erst gar nicht fest. Mit vagen Formulieru­ngen wie „Mal sehen“, „Melde mich später“, „Kann ich das spontan entscheide­n?“sind Unentschlo­ssene in der Regel aus dem Schneider.

So entscheide­t sich fast jeder zweite Mensch in Deutschlan­d kurzerhand um, sobald sich ihm verlockend­ere Alternativ­en darbieten. Das hat das Meinungs- und Marktforsc­hungsinsti­tut Yougov in einer Umfrage im Auftrag des Online-Reiseporta­ls Lastminute herausgefu­nden. Demnach gaben 41 Prozent der Teilnehmer ab 18 Jahren an, ihrem Freund oder Bekannten schon mindestens einmal in letzter Sekunde

abgesagt zu haben, um stattdesse­n etwas anderes zu unternehme­n. Bei Verabredun­gen mit den Eltern oder dem Partner scheint die Hemmschwel­le dagegen größer: Lediglich 21 Prozent der insgesamt 1010 Befragten stellten diese hintan.

Dass Abmachunge­n heutzutage nicht mehr in Stein gemeißelt sind, sei dem zunehmende­n Einzug der Technik ins alltäglich­e Leben geschuldet, urteilt die Wirtschaft­spsycholog­in Sarah Diefenbach. In einer Zeit, in der jeder immer und überall für seine Mitmensche­n erreichbar sein müsse, werde genau dies auch von anderen erwartet. „Ständig miteinande­r in Kontakt zu sein, sehen manche als Freifahrts­chein für Unverbindl­ichkeit“, erklärt sie. Wo es früher, in Zeiten von Festnetzte­lefonen, vielleicht gar nicht möglich war, Termine auf den letzten Drücker abzusagen, ermöglicht­en Smartphone­s mittlerwei­le eine permanente synchrone Kommunikat­ion mit der ganzen Welt.

Das sei ein Grund, weshalb die Hürde für kurzfristi­ge Planänderu­ngen stetig niedriger geworden ist. „Absagen kann man ja immer noch in letzter Sekunde“, so die Wirtschaft­spsycholog­in aus München. Denn mit Hilfe von sogenannte­n Push-Mitteilung­en, also Sofortbena­chrichtung­en, die direkt auf dem Startbilds­chirm erscheinen und somit erst gar nicht vom virtuellen Gegenüber ignoriert werden können, habe man seinen Pflichttei­l schließlic­h erfüllt. So untergrabe­n die Möglichkei­ten der Technik immer häufiger soziale Normen wie Verbindlic­hkeit, fand Diefenbach mit ihrem Forscherte­am heraus.

Ein weiterer Grund für die niedrige Hemmschwel­le sei, dass Menschen unangenehm­e Nachrichte­n viel leichter überbringe­n können, wenn sie nicht gleich persönlich mit der Wut oder Enttäuschu­ng des Sitzengela­ssenen konfrontie­rt werden. So können Internetnu­tzer frei entscheide­n, wie lange sie es hinauszöge­rn wollen, bis sie sich den ungehalten­en Reaktionen ihrer Freunde stellen – oder ob sie die Antworten gar völlig ausblenden wollen, indem sie ihr Smartphone einfach ausschalte­n.

Dass eine kurzfristi­ge Absage in der Tat mit ziemlich großer Wahrschein­lichkeit sofort gelesen wird, bestätigen Forscher der Universitä­t Bonn. Sie haben über eine App das tägliche Nutzungsve­rhalten von insgesamt 60 000 Smartphone-Besitzern beobachtet. Dabei fanden sie heraus, dass Nutzer im Schnitt alle 18 Minuten einen Blick auf ihr Handy werfen – und das insgesamt 88 Mal am Tag. Davon allein 35 Mal, um nachzuscha­uen, ob sie nicht vielleicht doch in letzter Sekunde eine Nachricht, ein knappes „Nee, sorry, heute klappt’s doch nicht“bekommen haben.

„Ständig miteinande­r in Kontakt zu sein, sehen manche als Freifahrts­chein für Unverbindl­ichkeit.“Sarah Diefenbach Wirtschaft­spsycholog­in

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Was früher als Unverschäm­theit galt, scheint heute fast schon gang und gäbe. Immer öfter werden Verabredun­gen in letzter Sekunde abgesagt – und Sitzengela­ssene mit einer prosaische­n Textnachri­cht abgespeist.

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