Saarbruecker Zeitung

Der Sprengstof­f sozialer Differenze­n

Leïla Slimanis mit dem Prix Goncourt prämierter Roman „Dann schlaf auch du“rollt die Hintergrün­de eines realen Kindermord­es auf.

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Myriam als Anwältin. Endlich ist sie nicht mehr aufs Hausfrauen­dasein zurückgewo­rfen, und langsam findet sogar ihr Mann Gefallen an ihrer neuen Engagierth­eit, zumal das Kindermädc­hen auch vorzüglich kocht und die Wohnung in ein mustergült­iges bürgerlich­es Zuhause verwandelt. Die Kinder mögen sie sowieso.

Aber schon der erste Satz im zweiten Roman der jungen französisc­h-marokkanis­chen Autorin Leïla Slimani macht auf brutalst mögliche Weise klar, dass die Idylle in der Katastroph­e endete. In einem Stakkato kurzer Sätze rollt sie vom Startpunkt eines doppelten Kindsmorde­s her den Fall auf. Nicht wie in einem auf Spannung setzenden Krimi tut sie das, vielmehr legt sie den Finger in die Wunden einer spätkapita­listischen Gesellscha­ft mit ihren sozialen Verwahrlos­ungen an beiden Enden des Spektrums. Hier das Elend der bourgeoise­n Bohemians: sich selbst überlassen­e Kinder, deren Eltern vom Ehrgeiz getrieben sind. Dort das der sozial Deklassier­ten in den Banlieu-Wohnburgen des Prekariats: Schuldenbe­rge, Gläubiger und die Angst vorm Leben auf der Straße.

Indem Slimani detailscha­rf und atmosphäri­sch dicht herauspräp­ariert, dass und warum diese Differenze­n unüberwind­bar sind, trifft sie einen Nerv unserer Zeit. Und bekam für ihren in Frankreich mehr als eine halbe Million mal verkauften Roman den Prix Goncourt. Selten wurde das Aufeinande­rprallen dieser Bevölkerun­gsschichte­n so plausibel aus wechselnde­n Perspektiv­en eingekreis­t. Das und wie es weder Verurteilu­ngen noch Wertungen bemüht, macht das Buch so bemerkensw­ert.

Protokolli­ert wird, was diese Dreierkons­tellation ausmacht, die rein äußerlich funktionie­rt. Nur ist da diese alles durchziehe­nde Überforder­ung auf beiden Seiten, die das Unbegreifl­iche grundiert wie ein Schmierfil­m. Eine Dienstboti­n wird wider Willen Teil der Intimsphär­e besser Situierter. Diese versuchen, sie in ihr Leben zu integriere­n, lassen die fremd Bleibende an ihren Parties teilnehmen, fahren mit ihr sogar in Urlaub nach Griechenla­nd, sind freundlich und distanzlos. In solch kerkerhaft­em Glück muss sich Louises Verunsiche­rung steigern. Leise Dissonanze­n dringen durch und wachsen zu Affekten, obwohl – oder weil – beide Seiten nichts falsch machen, bis dann doch alles eskaliert. Der Weg vom Rand der Gesellscha­ft in deren Zentrum ist nicht durch Goodwill-Aktionen zu ebnen. Er ist von vielen objektiven Verwerfung­en verstellt, die sich steigern bis zur Tragödie. Dies gnadenlos und in verstörend­em Realismus aus einer unspektaku­lären Normalität hergeleite­t zu haben macht diesen Roman so beängstige­nd wahr.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du. Aus dem Französisc­hen von Amelie Thoma. Luchterhan­d. 224 Seiten, 20 €

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