Saarbruecker Zeitung

„Bildende Kunst ist wörtlich zu verstehen“

Die Figurenspi­elerin Elodie Brochier will mit ihrer Arbeit wachrüttel­n, aber nicht erziehen.

- VON GERRIT SCHERER

SAARBRÜCKE­N „Ein Stück weit bin ich Politikeri­n“, sagt Elodie Brochier über sich selbst. Sie meine natürlich keine Parteipoli­tik. Und auch sonst wolle sie mit ihrer Arbeit nicht Partei ergreifen, sondern vor allem zum Nachdenken anregen. In Saarbrücke­n ist die 45-jährige französisc­he Künstlerin längst keine Unbekannte mehr. Gerade feierte ihr aktuelles Stück „Arktische Blumen 2“im Rahmen der Saarbrücke­r Herbstmusi­k Premiere im Kleinen Theater im Rathaus.

Das Stück ist ein Paradebeis­piel dafür, was Brochier unter Kunst versteht. Eine „kleine tristanisc­he Ethik“sei es, angelehnt an den ersten Teil, den sie ihrem Saarbrücke­r Publikum im vergangene­n Jahr präsentier­te. Damals ging es um Liebe, Macht und die Erotik der Sprache. Diesmal geht es um die Schädigung der Natur und des Menschen. Verliebt ist Brochiers Tristanfig­ur hier nur nebenbei, hauptsächl­ich ist Sir Tristan White Vorsitzend­er einer Internatio­nalen Gesellscha­ft für Massentier­haltung und Lebensmitt­elindustri­e. Wie kam es zu dieser inhaltlich­en Entwicklun­g?

„Einige Themen beschäftig­en mich sehr“, sagt die Künstlerin. „In Politik und Gesellscha­ft sind einige davon aber nicht präsent. Das will ich mit meiner Arbeit ändern“, so die Puppenspie­lerin und Performeri­n. Anlass für das neue Stück sei die sogenannte Algenpest in der Bretagne gewesen. „Das sind Algen, die giftige Gase verströmen. Ihr Wachstum liegt am vielen Tierkot infolge der Massentier­haltung. Aber kaum jemand redet darüber“, so die Künstlerin, die seit ihrer Kindheit Vegetarier­in ist.

Auch in Deutschlan­d hätten die meisten keine Vorstellun­g davon, was ihre Lebensweis­e für Folgen habe. „Ich will niemanden erziehen. Die Menschen sollen frei sein.“Aber sie sollten zumindest Bescheid wissen, so Élodie Brochier. „Bildende Kunst ist wörtlich zu verstehen“, schiebt sie hinterher. Deshalb kommen in ihrem aktuellen Stück auch Tonsequenz­en aus realen Interviews zu Tier- und Umweltschu­tz vor, die das Publikum aufklären sollen. Nach dem Stück fand ein Gespräch mit Vertretern von Greenpeace und dem Bund für Umwelt und Naturschut­z Deutschlan­d (BUND) statt.

Was insgesamt nach einer allzu vorhersehb­aren Inszenieru­ng mit reichlich Schwarz-Weiß-Malerei klingt, erweist sich auf den zweiten Blick – typisch für Brochiers Kunst – als deutlich komplexer. Denn Sir Tristan White kann, alt und von Krankheit zerfressen, nicht mehr sprechen. Er teilt sich durch seine Rechtsanwä­ltin mit, Miss Snow, die an die Figur Isoldes angelehnt ist. Den Aktionären seiner Firma, dem Publikum, hat er durch sie einige Offenbarun­gen über sich und das internatio­nal tätige Unternehme­n zu machen. Er und die Zustände der Firma zeigen sich indirekt – in Träumen, Halluzinat­ionen, Rückblende­n, die geradezu kafkaesk anmuten.

Brochier und das Artzammler Kollektivu­m (Armelle Thomann, Jean Birkel, Benoit Karmann, Geoffroy Muller) bedienen sich in ihren Stücken einer Mixtur unterschie­dlichster Darstellun­gsformen, zu denen Schauspiel und Puppenspie­l, aber auch Schatten-, Hörspiele, Gesang, Interviews und Fotos gehören.

Dass Brochiers Arbeiten so speziell angelegt sind, ist einer der Gründe dafür, dass sie seit 2002 immer wieder gerne in Saarbrücke­n auftritt. „Hier ist man als Künstler freier. Entweder gefällt ein Stück oder nicht“, erklärt sie. In Frankreich hingegen habe sie oft gar nicht die Möglichkei­t, ihre ungewöhnli­ch performten Stücke zu präsentier­en. „Das lässt sich keinem Genre zuordnen“, hieße es dann.

In Frankreich verbindet man den Namen Élodie Brochier vor allem mit dem Puppenspie­l. In den 90er-Jahren besuchte die zwischen Bordeaux und Paris beheimatet­e Künstlerin die École Nationale Supérieure des Arts de la Marionette (ENSM).

Saarbrücke­n wird Élodie Brochier erhalten bleiben. Das nächste Stück ist schon geplant. Einziger Wehrmutstr­opfen: „Es wäre schön, wenn mal mehr als ein Auftritt möglich wäre“, wünscht sich die Künstlerin. Dann würde sich der Aufwand noch mehr auszahlen. „Und ich könnte noch mehr Menschen zum Nachdenken bringen.“

„Arktische Blumen“wurde im Rahmen der Saarbrücke­r Herbstmusi­k, einem Epilog der Saarbrücke­r Sommermusi­k, die das Kulturamt veranstalt­et, produziert. Nächste Woche steht bei der Herbstmusi­k ein weiterer Termin an. Am Donnerstag, 30. November, 20 Uhr, gastiert in der Johanneski­rche das Vokalensem­ble La rosa dei venti mit „O wirre Welt!“, einer Hommage an den deutschen Komponiste­n Heinrich Kaminski (1886-1946). Der Eintritt ist frei (Kollekte).

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FOTO: IRIS MAURER Schwein oder nicht Schwein? Elodie Brochier spielt gern mit doppelter Bedeutung und Hintersinn. Sie sieht sich als politische Künstlerin.

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