Dehnen ist eine Wissenschaft für sich
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st es sinnvoll, sich vor dem Laufen, einem Fußballspiel oder einem anderen sportlichen Wettkampf zu dehnen? Kann man dadurch Verletzungen verhindern? Das glauben zumindest die meisten Sportler, auch Profis. „Doch das Dehnen bringt eigentlich nichts“, sagt Professor Dr. Georg Wydra vom Sportwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlandes. Er hat mit seinen Mitarbeitern mehrere maßgebliche Studien zur Wirkung von Dehnungsübungen durchgeführt.
IWas erforscht ist: Längst ist klar, dass Muskeln nicht in dem Sinne dehnbar sind, dass sie länger werden. Deshalb wird darüber diskutiert, ob Dehnen überhaupt sinnvoll ist. Dazu sagt Georg Wydra: „Heute weiß man, dass ausgiebiges Dehnen vor und nach dem Sport, beispielsweise beim Laufen oder Fußballspielen, weder Muskelkater verhindert noch das Risiko für Verletzungen vermindert noch zu einer besseren Regeneration oder erhöhter Leistungsfähigkeit führt. „Nichts davon hat sich bestätigt.“
In zahlreichen Studien ist sogar nachzulesen, dass Stretching sich negativ auf Schnelligkeit, Schnellkraft und Maximalkraft auswirken kann, wenn es unmittelbar vor dem Wettkampf betrieben wird. Schnellkraft und Schnelligkeit sind besonders bei Sprintund Sprung-Disziplinen gefragt, große Maximalkraft ist vor allem beim Gewichtheben, aber auch bei Ringen und Judo erforderlich.
„Nachgewiesen ist aber auch, dass Dehnen die Beweglichkeit verbessert“, erläutert Wydra. „Durch regelmäßiges Dehnen wird der Muskel zwar nicht länger, aber doch elastischer, was sofort spürbar und auch langfristig eine höhere Beweglichkeit und verbesserte Geschmeidigkeit ermöglicht. In einigen Sportarten ist das sehr wohl erwünscht. Beispielsweise können Handball- und Tennisspieler den nach oben gestreckten Arm weiter nach hinten führen. Die größere Schwingungsweite in den Gelenken kommt Sportlern zugute, die eine überdurchschnittliche Beweglichkeit brauchen, um ihre volle Leistungsfähigkeit erreichen zu können: Turnen, Rhythmische Sportgymnastik, Ballett, Leichtathletik. Professor Dr. Georg Wydra
Sportwissenschaftler
Bessere Beweglichkeit: Georg Wydra will Dehnübungen keineswegs aus dem Sport verbannen. „Sie bleiben ein wichtiger Bestandteil im Freizeit- und Leistungssport. Der zunehmende Bewegungsmangel in unserer Gesellschaft führt nicht nur zu Kraftverlust, schlechterer Ausdauer und mangelhafter Koordination, sondern auch zu verringerter Beweglichkeit. Deshalb sollte ein ganzheitliches Training auch Dehnen beinhalten, damit die Beweglichkeit erhalten bleibt oder verbessert wird.“
Eine Muskulatur, die an Geschmeidigkeit einbüßt, verhärtet und hat eine erhöhte Grundspannung. Man spricht von Muskelverkürzungen. Dagegen hilft nur regelmäßiges Dehnen.
Richtig dehnen: Die verschiedenen Möglichkeiten des Dehnens sind gut erforscht. Beim statischen Dehnen, auch Stretching genannt, wird die Dehnposition gehalten, beim dynamischen Dehnen hingegen wird der Muskel durch langsam federnde Bewegungen mehrmals nacheinander in die Länge gezogen und wieder entspannt. Macht man schnellere federnde oder wippende Bewegungen, spricht man von ballistischem Dehnen. „Dieses sollte allerdings Leistungssportlern vorbehalten sein, die maximal beweglich sein müssen“, sagt Wydra.
Die Saarbrücker Forscher konnten nachweisen, dass beim dynamischen Dehnen, das lange Zeit wegen der federnden, wippenden Bewegungen als Zerr-Gymnastik verpönt war, keineswegs zu hohe Zugkräfte im Muskel auftreten, die das Verletzungsrisiko steigern. „Ein dynamisches Dehnen mit wenig ausgreifenden, langsamen und rhythmischen Bewegungen führt zu optimalen Ergebnissen“, sagt Wydra. „Diese Art des Dehnens ist für Fortgeschrittene mit gutem Körper- und Muskelgefühl zu empfehlen, die rechtzeitig spüren, wenn sie zu stark und mit zu weiten Bewegungen dehnen.“Statisches Dehnen hingegen ist Anfängern und Wiedereinsteigern zu empfehlen, da es am besten spürbar macht, welcher Muskel gedehnt wird.
Durch statisches Dehnen werden die feinsten Fasern des Muskels, die sogenannten Filamente, und das Bindegewebe des Muskels auseinandergezogen. Dadurch verringert sich die Grundspannung des Muskels und damit seine Fähigkeit, Bewegungsenergie zu speichern. Man spricht auch von kinetischer Energie. Da der Muskel die gespeicherte Bewegungsenergie schnell wieder abgeben kann, fällt es zum Beispiel leichter, ohne Zwischenstopp auf der Stelle zu hüpfen. Bei Sprints, wo explosive Bewegungen gefragt sind, kann die durch Dehnen verringerte Muskelspannung die Leistung also mindern.
Die Mehrzahl der Studien besagt, dass Schnellkraft und Schnelligkeit sich unmittelbar nach dem statischen Dehnen verschlechtern. „Doch die unerwünschten Effekte bilden sich zurück, wenn man nach dem statischen Dehnen eine Pause von einer halben Stunde einlegt“, erklärt Georg Wydra. „Danach sind bei Wettbewerben, die Schnellkraft erfordern, keine Einschränkungen mehr zu befürchten.“Dynamisches Dehnen hat nicht die negativen Effekte wie das statische Dehnen, selbst wenn man es noch kurz vor dem Wettkampf anwendet.
Unbestritten ist aber auch, dass regelmäßiges Dehnen, egal ob die statische oder dynamische Methode eingesetzt wird, die Beweglichkeit in den Gelenken steigert. Das hilft etwa Handball- und Tennisspielern, Speerwerfern, Turnern.
Eine Abwandlung des dynamischen Dehnens ist das Dehnen im Bewegungsvollzug. Ein Hürdensprinter beispielsweise zieht beim Trainingslauf das Schwungbein so weit hoch, dass ein Dehneffekt spürbar wird. Dabei werden nicht nur einzelne Muskeln, sondern die gesamte Muskelkette einbezogen. „Mit einem solchen Dehnprogramm kann man sich auf die komplexen Bewegungsabläufe vorbereiten, wie sie in den meisten Sportarten erforderlich sind“, sagt Georg Wydra.
Muskel mit Bremsfallschirm: Damit ein Muskel bei zu heftiger und schneller Dehnung nicht reißt, aktiviert er seinen Bremsfallschirm. Er zieht sich reflexartig zusammen. Diese Kontraktion wirkt der Überdehnung entgegen. Das spielt beim sogenannten postisometrischen Dehnen eine Rolle, einer Varianten des statischen Dehnens. Der Muskel wird vor der Dehnung kräftig angespannt – man spricht von isometrischer Anspannung –, dann entspannt und danach gedehnt. „Man geht davon aus, dass sich unmittelbar nach der isometrischen Kontraktion der reflektorische Widerstand des Muskels verringert, was das Dehnen begünstigt“, erläutert Wydra. Angewendet wird das postisometrische Dehnen oft beim Rehasport, denn es minimiert auch den Dehnungsschmerz.
Verletzungen vorbeugen: In der Wissenschaft herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Dehnen vor einer sportlichen Betätigung einer Verletzung nicht vorbeugt. Doch rund 75 Prozent der Leistungssportler in Deutschland aus 24 untersuchten Disziplinen beziehen Dehnübungen regelmäßig in Training und Wettkampf mit ein. Das besagt eine Studie der Universitäten Heidelberg und Mannheim, über die im März die Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin berichtet hat. 68 Prozent der Sportler sind der Meinung, dass die Dehnübungen vor Verletzungen schützen, können dafür aber keine wissenschaftlichen Belege nennen.
Doch es gibt Übungen beim Aufwärmen, die das Verletzungsrisiko nachweislich mindern. Das zeigt auch die Studie der Uni Jena. Gemeint ist ein sogenanntes sensomotorisches Training, das zum Beispiel Sprung-, Balance- und Stabilisierungseinheiten enthält. Solche Koordinationsübungen verbessern die Körperwahrnehmung und damit die Fähigkeit, seine Muskeln gezielt anzusteuern. Ein Sensomotoriktraining beschleunigt die Auslösung von Reflexen des Nervenund Muskelsystems. Droht zum Beispiel beim Laufen oder Fußballspielen der Fuß umzuknicken, spannen sich die Muskeln schneller an, wodurch sie das Fußgelenk rechtzeitig stabilisieren und dadurch das Umknicken verhindern können.
Auch Georg Wydra sagt, dass der Koordination bei der Verletzungsprävention eine maßgebliche Rolle zukommt. „Doch bei Ermüdung geht diese dann schnell verloren. Daher sollte außer der Koordination auch die Kraftausdauer verstärkt trainiert werden.“
Eine Studie des Weltfußballverbandes Fifa mit 1890 Fußballerinnen zwischen 13 und 17 Jahren hat gezeigt, dass ein solches Fitnessprogramm die Häufigkeit der Verletzungen um ein Drittel vermindern kann, die Zahl der schweren Blessuren fast um die Hälfte.
„Aus unserer Erfahrung rufen Koordinationsprobleme häufig Sprunggelenksverletzungen hervor“, erklärt Astrid Zech von der Uni Jena. „Von den befragten Fußballspielern betrachten das aber nur etwa sieben Prozent als Risikofaktor, im Profibereich mit zwölf Prozent ein wenig mehr.“Alles in allem wissen selbst Profispieler noch zu wenig über eine wirksame Verletzungsvorbeugung Bescheid. „Daher ist es wichtig, Trainern und Sportlern die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vermitteln“, sagt Zech.
„Dehnen erhöht
nicht die Leistungsfähigkeit.“
Körpergefühl trainieren: Wie Verletzungen vorgebeugt werden kann, wissen aber auch Fußballvereine schon seit Langem. Der 1. FC Kaiserslautern beispielsweise hat im Jahr 2001 auf seinem Jugendtrainingsgelände Fröhnerhof einen Motorik-Parcours aufgebaut. An den einzelnen Stationen absolvieren die Nachwuchsspieler Balance-, Sprung- und Ausweichübungen, die nachweislich das Gleichgewicht und die Körperkoordination verbessern. Dieses Training verbessert das Körpergefühl und beschleunigt die Reflexe von Nervensystem und Muskeln.