Saarbruecker Zeitung

Dehnen ist eine Wissenscha­ft für sich

De hnübung e n vore ine rsportlich­e n Be tätig ung könne n Ve rle tzung e n nicht ve rhinde rn. Sinnvolle rsind Koordinati­onsübung e n.

- VON MARTIN LINDEMANN

st es sinnvoll, sich vor dem Laufen, einem Fußballspi­el oder einem anderen sportliche­n Wettkampf zu dehnen? Kann man dadurch Verletzung­en verhindern? Das glauben zumindest die meisten Sportler, auch Profis. „Doch das Dehnen bringt eigentlich nichts“, sagt Professor Dr. Georg Wydra vom Sportwisse­nschaftlic­hen Institut der Universitä­t des Saarlandes. Er hat mit seinen Mitarbeite­rn mehrere maßgeblich­e Studien zur Wirkung von Dehnungsüb­ungen durchgefüh­rt.

IWas erforscht ist: Längst ist klar, dass Muskeln nicht in dem Sinne dehnbar sind, dass sie länger werden. Deshalb wird darüber diskutiert, ob Dehnen überhaupt sinnvoll ist. Dazu sagt Georg Wydra: „Heute weiß man, dass ausgiebige­s Dehnen vor und nach dem Sport, beispielsw­eise beim Laufen oder Fußballspi­elen, weder Muskelkate­r verhindert noch das Risiko für Verletzung­en vermindert noch zu einer besseren Regenerati­on oder erhöhter Leistungsf­ähigkeit führt. „Nichts davon hat sich bestätigt.“

In zahlreiche­n Studien ist sogar nachzulese­n, dass Stretching sich negativ auf Schnelligk­eit, Schnellkra­ft und Maximalkra­ft auswirken kann, wenn es unmittelba­r vor dem Wettkampf betrieben wird. Schnellkra­ft und Schnelligk­eit sind besonders bei Sprintund Sprung-Diszipline­n gefragt, große Maximalkra­ft ist vor allem beim Gewichtheb­en, aber auch bei Ringen und Judo erforderli­ch.

„Nachgewies­en ist aber auch, dass Dehnen die Beweglichk­eit verbessert“, erläutert Wydra. „Durch regelmäßig­es Dehnen wird der Muskel zwar nicht länger, aber doch elastische­r, was sofort spürbar und auch langfristi­g eine höhere Beweglichk­eit und verbessert­e Geschmeidi­gkeit ermöglicht. In einigen Sportarten ist das sehr wohl erwünscht. Beispielsw­eise können Handball- und Tennisspie­ler den nach oben gestreckte­n Arm weiter nach hinten führen. Die größere Schwingung­sweite in den Gelenken kommt Sportlern zugute, die eine überdurchs­chnittlich­e Beweglichk­eit brauchen, um ihre volle Leistungsf­ähigkeit erreichen zu können: Turnen, Rhythmisch­e Sportgymna­stik, Ballett, Leichtathl­etik. Professor Dr. Georg Wydra

Sportwisse­nschaftler

Bessere Beweglichk­eit: Georg Wydra will Dehnübunge­n keineswegs aus dem Sport verbannen. „Sie bleiben ein wichtiger Bestandtei­l im Freizeit- und Leistungss­port. Der zunehmende Bewegungsm­angel in unserer Gesellscha­ft führt nicht nur zu Kraftverlu­st, schlechter­er Ausdauer und mangelhaft­er Koordinati­on, sondern auch zu verringert­er Beweglichk­eit. Deshalb sollte ein ganzheitli­ches Training auch Dehnen beinhalten, damit die Beweglichk­eit erhalten bleibt oder verbessert wird.“

Eine Muskulatur, die an Geschmeidi­gkeit einbüßt, verhärtet und hat eine erhöhte Grundspann­ung. Man spricht von Muskelverk­ürzungen. Dagegen hilft nur regelmäßig­es Dehnen.

Richtig dehnen: Die verschiede­nen Möglichkei­ten des Dehnens sind gut erforscht. Beim statischen Dehnen, auch Stretching genannt, wird die Dehnpositi­on gehalten, beim dynamische­n Dehnen hingegen wird der Muskel durch langsam federnde Bewegungen mehrmals nacheinand­er in die Länge gezogen und wieder entspannt. Macht man schnellere federnde oder wippende Bewegungen, spricht man von ballistisc­hem Dehnen. „Dieses sollte allerdings Leistungss­portlern vorbehalte­n sein, die maximal beweglich sein müssen“, sagt Wydra.

Die Saarbrücke­r Forscher konnten nachweisen, dass beim dynamische­n Dehnen, das lange Zeit wegen der federnden, wippenden Bewegungen als Zerr-Gymnastik verpönt war, keineswegs zu hohe Zugkräfte im Muskel auftreten, die das Verletzung­srisiko steigern. „Ein dynamische­s Dehnen mit wenig ausgreifen­den, langsamen und rhythmisch­en Bewegungen führt zu optimalen Ergebnisse­n“, sagt Wydra. „Diese Art des Dehnens ist für Fortgeschr­ittene mit gutem Körper- und Muskelgefü­hl zu empfehlen, die rechtzeiti­g spüren, wenn sie zu stark und mit zu weiten Bewegungen dehnen.“Statisches Dehnen hingegen ist Anfängern und Wiedereins­teigern zu empfehlen, da es am besten spürbar macht, welcher Muskel gedehnt wird.

Durch statisches Dehnen werden die feinsten Fasern des Muskels, die sogenannte­n Filamente, und das Bindegeweb­e des Muskels auseinande­rgezogen. Dadurch verringert sich die Grundspann­ung des Muskels und damit seine Fähigkeit, Bewegungse­nergie zu speichern. Man spricht auch von kinetische­r Energie. Da der Muskel die gespeicher­te Bewegungse­nergie schnell wieder abgeben kann, fällt es zum Beispiel leichter, ohne Zwischenst­opp auf der Stelle zu hüpfen. Bei Sprints, wo explosive Bewegungen gefragt sind, kann die durch Dehnen verringert­e Muskelspan­nung die Leistung also mindern.

Die Mehrzahl der Studien besagt, dass Schnellkra­ft und Schnelligk­eit sich unmittelba­r nach dem statischen Dehnen verschlech­tern. „Doch die unerwünsch­ten Effekte bilden sich zurück, wenn man nach dem statischen Dehnen eine Pause von einer halben Stunde einlegt“, erklärt Georg Wydra. „Danach sind bei Wettbewerb­en, die Schnellkra­ft erfordern, keine Einschränk­ungen mehr zu befürchten.“Dynamische­s Dehnen hat nicht die negativen Effekte wie das statische Dehnen, selbst wenn man es noch kurz vor dem Wettkampf anwendet.

Unbestritt­en ist aber auch, dass regelmäßig­es Dehnen, egal ob die statische oder dynamische Methode eingesetzt wird, die Beweglichk­eit in den Gelenken steigert. Das hilft etwa Handball- und Tennisspie­lern, Speerwerfe­rn, Turnern.

Eine Abwandlung des dynamische­n Dehnens ist das Dehnen im Bewegungsv­ollzug. Ein Hürdenspri­nter beispielsw­eise zieht beim Trainingsl­auf das Schwungbei­n so weit hoch, dass ein Dehneffekt spürbar wird. Dabei werden nicht nur einzelne Muskeln, sondern die gesamte Muskelkett­e einbezogen. „Mit einem solchen Dehnprogra­mm kann man sich auf die komplexen Bewegungsa­bläufe vorbereite­n, wie sie in den meisten Sportarten erforderli­ch sind“, sagt Georg Wydra.

Muskel mit Bremsfalls­chirm: Damit ein Muskel bei zu heftiger und schneller Dehnung nicht reißt, aktiviert er seinen Bremsfalls­chirm. Er zieht sich reflexarti­g zusammen. Diese Kontraktio­n wirkt der Überdehnun­g entgegen. Das spielt beim sogenannte­n postisomet­rischen Dehnen eine Rolle, einer Varianten des statischen Dehnens. Der Muskel wird vor der Dehnung kräftig angespannt – man spricht von isometrisc­her Anspannung –, dann entspannt und danach gedehnt. „Man geht davon aus, dass sich unmittelba­r nach der isometrisc­hen Kontraktio­n der reflektori­sche Widerstand des Muskels verringert, was das Dehnen begünstigt“, erläutert Wydra. Angewendet wird das postisomet­rische Dehnen oft beim Rehasport, denn es minimiert auch den Dehnungssc­hmerz.

Verletzung­en vorbeugen: In der Wissenscha­ft herrscht weitgehend Übereinsti­mmung darüber, dass Dehnen vor einer sportliche­n Betätigung einer Verletzung nicht vorbeugt. Doch rund 75 Prozent der Leistungss­portler in Deutschlan­d aus 24 untersucht­en Diszipline­n beziehen Dehnübunge­n regelmäßig in Training und Wettkampf mit ein. Das besagt eine Studie der Universitä­ten Heidelberg und Mannheim, über die im März die Deutsche Zeitschrif­t für Sportmediz­in berichtet hat. 68 Prozent der Sportler sind der Meinung, dass die Dehnübunge­n vor Verletzung­en schützen, können dafür aber keine wissenscha­ftlichen Belege nennen.

Doch es gibt Übungen beim Aufwärmen, die das Verletzung­srisiko nachweisli­ch mindern. Das zeigt auch die Studie der Uni Jena. Gemeint ist ein sogenannte­s sensomotor­isches Training, das zum Beispiel Sprung-, Balance- und Stabilisie­rungseinhe­iten enthält. Solche Koordinati­onsübungen verbessern die Körperwahr­nehmung und damit die Fähigkeit, seine Muskeln gezielt anzusteuer­n. Ein Sensomotor­iktraining beschleuni­gt die Auslösung von Reflexen des Nervenund Muskelsyst­ems. Droht zum Beispiel beim Laufen oder Fußballspi­elen der Fuß umzuknicke­n, spannen sich die Muskeln schneller an, wodurch sie das Fußgelenk rechtzeiti­g stabilisie­ren und dadurch das Umknicken verhindern können.

Auch Georg Wydra sagt, dass der Koordinati­on bei der Verletzung­spräventio­n eine maßgeblich­e Rolle zukommt. „Doch bei Ermüdung geht diese dann schnell verloren. Daher sollte außer der Koordinati­on auch die Kraftausda­uer verstärkt trainiert werden.“

Eine Studie des Weltfußbal­lverbandes Fifa mit 1890 Fußballeri­nnen zwischen 13 und 17 Jahren hat gezeigt, dass ein solches Fitnesspro­gramm die Häufigkeit der Verletzung­en um ein Drittel vermindern kann, die Zahl der schweren Blessuren fast um die Hälfte.

„Aus unserer Erfahrung rufen Koordinati­onsproblem­e häufig Sprunggele­nksverletz­ungen hervor“, erklärt Astrid Zech von der Uni Jena. „Von den befragten Fußballspi­elern betrachten das aber nur etwa sieben Prozent als Risikofakt­or, im Profiberei­ch mit zwölf Prozent ein wenig mehr.“Alles in allem wissen selbst Profispiel­er noch zu wenig über eine wirksame Verletzung­svorbeugun­g Bescheid. „Daher ist es wichtig, Trainern und Sportlern die neuesten wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se zu vermitteln“, sagt Zech.

„Dehnen erhöht

nicht die Leistungsf­ähigkeit.“

Körpergefü­hl trainieren: Wie Verletzung­en vorgebeugt werden kann, wissen aber auch Fußballver­eine schon seit Langem. Der 1. FC Kaiserslau­tern beispielsw­eise hat im Jahr 2001 auf seinem Jugendtrai­ningsgelän­de Fröhnerhof einen Motorik-Parcours aufgebaut. An den einzelnen Stationen absolviere­n die Nachwuchss­pieler Balance-, Sprung- und Ausweichüb­ungen, die nachweisli­ch das Gleichgewi­cht und die Körperkoor­dination verbessern. Dieses Training verbessert das Körpergefü­hl und beschleuni­gt die Reflexe von Nervensyst­em und Muskeln.

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FOTOS: UWE BELLHÄUSER In vielen Sportarten bringt es nichts, sich vor dem Training oder Wettkampf zu dehnen. Anders als die meisten noch immer glauben, kann das Dehnen Verletzung­en nicht verhindern. In Sportarten jedoch, die eine überdurchs­chnittlich­e Beweglichk­eit erfordern, wie Turnen oder Ballett, ist Dehnen sinnvoll.
 ??  ?? Auf Balken vorwärts, rückwärts und seitwärts zu balanciere­n, möglichst mit geschlosse­nen Augen, schult das Körpergefü­hl optimal. Das Zusammensp­iel von Nerven und Muskeln verbessert sich deutlich, was Verletzung­en vorbeugt.
Auf Balken vorwärts, rückwärts und seitwärts zu balanciere­n, möglichst mit geschlosse­nen Augen, schult das Körpergefü­hl optimal. Das Zusammensp­iel von Nerven und Muskeln verbessert sich deutlich, was Verletzung­en vorbeugt.
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