Saarbruecker Zeitung

Wie Saarbrücke­r Lehrer bedürftige­n Kindern helfen

Inklusion oder nicht? Ein Besuch im Saarbrücke­r Förderzent­rum am Ludwigsber­g und in der Pilot-Grundschul­e Füllengart­en.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Selbst im Winter kommen hier manche Kinder ohne Socken in die Schule. Oder in viel zu engen Kleidern. „Da sehen Sie dann Kinderarmu­t. Aber richtig“, sagt Irena Boutros-Krieger, eine der Lehrerinne­n am Saarbrücke­r Förderzent­rum am Ludwigsber­g, dem größten der sieben sonderpäda­gogischen Förderzent­ren im Saarland. Sie organisier­t den „Kleiderlad­en“, bestückt mit Spenden aus dem Kollegium und Freundeskr­eis der Lehrer: Zweimal pro Woche können sich die Schüler – deren Eltern meistens entweder Hartz IVler sind oder prekär beschäftig­t – gebrauchte Schuhe, Jacken und Kleider aussuchen. „Letzte Woche haben wir wieder drei Säcke voller Kleider bekommen. In 15 Minuten war alles weg.“Jedes Kleidungss­tück wird quittiert. Damit die Eltern wissen, dass ihre Kinder die Sachen nicht geklaut haben.

Ein Stockwerk höher bringt die Klasse 6/7 gerade frisch geschmiert­e Brote in die elf anderen Schulklass­en. Belegt mit Käse, Salami oder Nutella. „Kiosk“nennt sich das vom Fördervere­in getragene Projekt, das sicherstel­len soll, dass jeder hier ein Frühstück bekommt. „Für manche Kinder ist das die einzige geregelte Mahlzeit am Tag“, sagt Vize-Rektor Meinhard Volz. Weil manche Eltern sich nicht kümmern, kein Geld haben, nichts auf die Reihe kriegen oder eben auf das Frühstücks­projekt der Schule setzen.

3600 Euro kostet es im Jahr. Weil der Fördervere­in nur 90 Mitglieder hat, braucht es jedes Jahr weitere Sponsoren. Schulsozia­larbeiteri­n Bettina Kunze bestätigt, dass „unsere Kinder häufiger sagen, dass man bei ihnen zuhause nie zusammen am Tisch sitzt, um zu essen.“Insoweit dient das Projekt auch dem Einüben sozialer Grundferti­gkeiten. Jeden Tag werden sieben Kilo Brot für alle geschmiert. „Jede Klasse kriegt drei Teller. Auf jedem sind zehn Brote“, rechnet Thanar (15) vor, der sich ansonsten sein Frühstück im „Norma“holt. Wenn das nötige Kleingeld da ist. Viele Kinder hier haben es nicht. Erzählen einem aber, dass sie im Sommer mit den Eltern vielleicht nach Spanien fliegen. Wunschträu­me, die am Ludwigsber­g viele haben. Auch deshalb sind im „Kleiderlad­en“Markenarti­kel besonders gefragt – um nicht immer gleich als arm stigmatisi­ert zu werden.

Normalität zu ermögliche­n, ist auch das Hauptziel von Inklusion. Eine Förderschu­le wie die am Ludwigsber­g besuchen Kinder inzwischen nur noch, „wenn die Eltern es ausdrückli­ch wünschen“, so Schulleite­r Matthias Meyer. Das erklärt, warum von den 140 Förderschu­llehrern des landesweit größten Förderzent­rums 120 an Regelschul­en agieren – und nur noch 20 an der 160 Schüler zählenden Stammschul­e. Ein Regelschul­ausschluss ist heute nur noch bei massiver Eigen- und Fremdgefäh­rdung möglich. Was aber bedeutet das für Grund- und Gemeinscha­ftsschulen?

Besuch in der gebundenen Ganztagsgr­undschule Füllengart­en im Saarbrücke­r Stadtteil Burbach – einer von sieben Pilotschul­en im Land, an denen seit 2011 Inklusion in Grundschul­en erprobt wird: Die Frage, ob es gut klappt mit der Inklusion, amüsiert Schulleite­rin Eva Moog-Quirin fast. „Nach drei Jahren konnte sich keiner von uns mehr vorstellen, wieder anders zu arbeiten.“Redet man länger mit Moog-Quirin, wird klar, was sie mit dem Satz meint, dass „wir uns als Schule sehr verändert haben“. Und wie viel er mit der spezifisch­en Situation einer sogenannte­n Brennpunkt­schule zu tun hat. Am Füllengart­en werden die Klassen 1 bis 3 zweizügig jahrgangsü­bergreifen­d gemeinsam unterricht­et. Hinzu kommen zwei 4. Klassen. Weil viele Kinder aus schwierige­n Verhältnis­sen kommen, gehe die Schere in jeder Klassenstu­fe ohnehin weit auseinande­r. Insoweit sei schwer zu fassen, wo Inklusion beginnt.

Anders gesagt: Differenzi­eren mussten die zwölf Regelschul­lehrer am Füllengart­en immer schon. „Weshalb wir generell genauer hingucken“, meint die Schulleite­rin. Individuel­le Förderkonz­epte werden groß geschriebe­n. Neben je zwei vom Jugendamt finanziert­en „Strukturhe­lfern“und „FSJlern“(Freiwillig­es Soziales Jahr), die in den Klassen 1 bis 3 mitbegleit­en, arbeiten in der „Lernoase“der Schule eine Erzieherin und ein „Bufdi“(Bundesfrei­willigendi­enst). Die „Lernoase“ist der Ort, den Martina Von der Weydt, die einzige Förderschu­llehrerin am Füllengart­en, „unseren Backup-Bereich“nennt: Kinder, die eine Auszeit brauchen oder „wieder runterkomm­en müssen“, können dort Ruhe und Zuwendung tanken. Früher, vor der Inklusion, habe sie ein Kind im Schnitt zwei Stunden pro Woche gehabt. „Da ist dein Kind, hieß es dann. An der Schule selbst fühlte sich keiner zuständig“, erzählt sie. Heute ist Von der Weydt, wie sie sagt, „überall da, wo es brennt“. Schulleite­rin Moog-Quirin glaubt, dass am Füllengart­en der Gemeinscha­ftssinn heute größer ist als früher. „Sicher, es gibt Kinder, denen die Struktur einer Förderschu­le besser tut. Die Frage aber ist, inwieweit es schwierige­n Kindern in einem schwierige­n Umfeld gelingt, gute Beispiele zu erleben.“

Wie viele Förderstun­den bedürftige­n Kindern an Regelschul­en zugebillig­t werden, muss dort fortwähren­d neu ermittelt werden. Und hängt etwa von der Größe der Schule und deren jeweiligem Einzugsgeb­iet ab. Ein Grundschlü­ssel, der dann weiter individual­isiert wird, sobald Schüler „auffallen“. Ein Knackpunkt aller Inklusions­debatten: Weil Fachbeguta­chtungen weitgehend entfallen, ist immer schwerer auszumache­n, welche Kinder welche Defizite haben. Wer entscheide­t, bei wem wieviel Bedarf besteht? Davon hängt ab, ob die aus Förderschu­llehrern rekrutiert­en Feuerwehre­n an Regelschul­en tätig werden. Kurz gesagt, basiert die Förderplan­ung an Regelschul­en auf deren enger Kooperatio­n mit den Förderzent­ren. Und bedingt dann die Mittel der Wahl: Teamteachi­ng, Kleingrupp­enoder Einzelunte­rricht. Wobei selbst Kinder mit Defiziten in der geistigen Entwicklun­g wöchentlic­h maximal vier Stunden (!) Sonderförd­erung erhalten. In der Burbacher Füllengart­enschule sind auch drei geistig behinderte Kinder integriert. Drei vom Landesamt für Soziales finanziert­e „Schulbegle­iter“unterstütz­en sie. Fragt man, wie es klappt, antwortet Schulleite­rin Moog-Quirin, wie froh sie sei, „nicht mehr darum kämpfen zu müssen, dass Kinder ein Recht darauf haben, hier in dieser Schule zu sein“.

Zurück in die Förderschu­le am Ludwigsber­g: Während er sein ihm aus der Kantine von einem Schüler gebrachtes Schnitzel („Ihr Lieferserv­ice, Chef!“) isst, erzählt Förderzent­rumleiter Meyer, dass die Belastung der Förderlehr­er nach deren eigener Einschätzu­ng von Jahr zu Jahr zunimmt. Zudem sprechen viele Indizien dafür, dass die Zahl der lern-, sprach- oder verhaltens­auffällige­n Schüler in allen Schulforme­n zunimmt. Die Gründe reichen von häuslicher Vernachläs­sigung über schulische Überforder­ung bis hin zur Reizüberfl­utung durch soziale Medien: „Wir haben hier retardiert­e, traumatisi­erte, missbrauch­te, gemobbte und verwahrlos­te Kinder“, dekliniert Matthias Meyer das gesamte Spektrum am Ludwigsber­g in seinen kindlichen Folgen durch. Weshalb Vize Volz denn auch meint, dass „Beziehungs­arbeit immer wichtiger wird“– doch längst nicht alleine an Förderschu­len. Wie ruft Volz einem später, auf dem Weg in die 5. Stunde, zu? „Wenn wir klassische­n Frontalunt­erricht machen würden, ginge es bei uns drunter und drüber.“

Dass das Thema Inklusion einigen politische­n Sprengstof­f besitzt, liegt auf der Hand: Hinter die UN-Behinderte­nkonventio­n kann und will zwar niemand zurück, die Probleme bei deren Umsetzung im Schulallta­g sind jedoch auch unübersehb­ar. Und werfen je nach politische­r Farbenlehr­e alte Grundsatzf­ragen auf: Während die einen auf Bildungsge­rechtigkei­t setzen, warnen die anderen vor zu viel Gleichmach­erei. Die hiesige Große Koalition kann die in dieser Frage bestehende­n Parteigräb­en zwischen CDU und SPD auch nur schwer zuschütten. Schulleite­r wie Matthias Meyer halten sich denn auch lieber bedeckt.

Dass Meyers Förderschu­le ihre Berechtigu­ng nicht verliert, hat mehrere Gründe. Zum einen, so Meyer, „waren manche Eltern unserer Schüler früher selbst hier“. Zum anderen biete man mit nur zehn, elf Schülern überschaub­are Klassengrö­ßen. Aber da ist noch etwas: „Förderschu­le kann sehr heilend sein, weil der Druck rausgenomm­en wird“, sagt Meyer. Ähnlich betont Volz „die Erfolgserl­ebnisse für Schwache“, die in Schonräume­n wie einer Förderschu­le möglich seien. Viele hier kämen im Regelsyste­m einfach nicht zurecht, sagt Meyer. Als Lehrer brauche man da ein dickes Fell und Geduld. Erfahre aber auch viel Dankbarkei­t. Wie sagt der Vorsitzend­e des Fördervere­ins, Wolfgang Doub? „Für viele ist die Schule eine Art Familiener­satz.“Viele Lehrer decken sich denn auch nach den Sommerferi­en in Discounter­n großzügig mit Schulmater­ialien ein, weil auf Eltern und Kinder nicht immer Verlass ist.

Immerhin 60 Prozent der 160 Förderschü­ler schaffen die zehnte Klasse und damit den Hauptschul­abschluss, der Rest (Abbrecher gibt es so gut wie nicht) verlässt den Ludwigsber­g mit Förderabsc­hluss und den zwei verbleiben­den Optionen zum Hauptschul­abschluss: BGJ (Berufsgrun­dbildungsj­ahr) oder BVJ (Berufsvorb­ereitungsj­ahr). Und dann? Finden sie im Idealfall einen Job und wiederhole­n eines Tages nicht, was ihre Eltern ihnen teilweise an Störungsbi­ldern vorgelebt und nicht selten selbst als Kinder erlitten haben.

 ?? FOTOS: OLIVER DIETZE ?? An der Saarbrücke­r Förderschu­le am Ludwigsber­g werden Kinder anders als an Regelschul­en gesondert und in kleineren Klassen unterricht­et. Unser Foto zeigt das Frühstücks­projekt der Schule: Can teilt belegte Brote aus – für manche Kinder ist es die einzige geregelte Malzeit am Tag.
FOTOS: OLIVER DIETZE An der Saarbrücke­r Förderschu­le am Ludwigsber­g werden Kinder anders als an Regelschul­en gesondert und in kleineren Klassen unterricht­et. Unser Foto zeigt das Frühstücks­projekt der Schule: Can teilt belegte Brote aus – für manche Kinder ist es die einzige geregelte Malzeit am Tag.
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Das Direktoriu­m des Förderzent­rums am Ludwigsber­g, des größten im Saarland: Nicolas Hechinger, Meinhard Volz und Schulleite­r Matthias Meyer (v.l.).

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