Saarbruecker Zeitung

Das dunkle Kapitel der Völklinger Hütte

Tausende Zwangsarbe­iter schufteten während des Zweiten Weltkriegs in der Völklinger Hütte. Eine Historiker-Tagung befasste sich nun mit diesem dunklen Kapitel des Stahlwerks.

- VON KERSTIN KRÄMER

Tausende Zwangsarbe­iter schufteten während des Zweiten Weltkriegs in der Völklinger Hütte und ihren Nebenbetri­eben. Historiker berichtete­n auf einer Tagung vom „barbarisch­en Arbeitsreg­ime“, das dort geherrscht haben soll.

13,5 Millionen Zwangsarbe­iter gab es im Deutschen Reich – die besetzten Gebiete eingerechn­et, kommt man auf rund 20 Millionen. Sie stammten aus insgesamt 20 Nationen; das Gros stellten russische Kriegsgefa­ngene und Menschen aus der Sowjetunio­n. Bis Anfang der 70-er Jahre fristete die Forschung zur Zwangsarbe­it in der bundesdeut­schen Geschichts­wissenscha­ft eher ein Nischendas­ein. Erst die 1985 von Ulrich Herbert veröffentl­ichte Studie „Fremdarbei­ter. Politik und Praxis des ‚Ausländer-Einsatzes‘ in der Kriegswirt­schaft des Dritten Reiches“schuf ein öffentlich­es Bewusstsei­n, in dessen Folge einige Unternehme­n begannen, sich ihrer Verantwort­ung zu stellen.

Auch in der Völklinger Hütte und ihren Nebenbetri­eben waren im Zweiten Weltkrieg 12 000 Menschen verschiede­ner Nationen im Einsatz, die meisten von ihnen Zwangsarbe­iter. Es handelte sich um französisc­he, italienisc­he und russische Kriegsgefa­ngene oder aus der damaligen Sowjetunio­n verschlepp­te russische und ukrainisch­e Zivilperso­nen. Mehr als 250 dieser ausländisc­hen Arbeitskrä­fte starben, aufgrund diskrimini­erender und unmenschli­cher Arbeitsbed­ingungen.

Am Dienstag widmete das Weltkultur­erbe Völklinger Hütte dem Thema eine Ringvorles­ung in Kooperatio­n mit der Universitä­t des Saarlandes, der Universitä­t Trier, der European Route of Industrial Heritage (ERIH) sowie dem Saarländis­chen Museumsver­band. Die Vorträge rückten die Situation in der Völklinger Hütte in den deutschen und europäisch­en Kontext und präsentier­ten aktuelle Forschungs­ergebnisse.

Zum Erziehungs­lager Etzenhofen etwa referierte Christian Reuther, Leiter des Stadtarchi­vs Neunkirche­n und ehemaliger Leiter des Stadtarchi­vs Völklingen: Mit diesem Lager machten die Röchling’schen Eisenund Stahlwerke im Frühjahr 1943 von der Option Gebrauch, betriebsei­gene Lager zur Disziplini­erung von Arbeitern einzuricht­en.

Die Frage der medizinisc­hen Versorgung der Zwangsarbe­iter der Völklinger Hütte beleuchtet­e die Historiker­in Inge Plettenber­g: Im Zuge der lokalen Studien, die in den 80er-Jahren auf Herberts Publikatio­n folgten, leistete sie neben Hans-Henning Krämer saarländis­che Pionierarb­eit. Auch die Präsentati­on zur Zwangsarbe­it in der Völklinger Hütte, die in der Sinteranla­ge in den Besucherwe­g des Weltkultur­erbes Völklinger Hütte integriert ist, beruht auf den Forschunge­n Plettenber­gs – hierzu erscheint nun auch eine eigene Publikatio­n.

Während Marcel Brüntrup von der Westfälisc­hen Wilhelms-Universitä­t Münster und Mark Spoerer von der Universitä­t Regensburg den Umgang mit „unerwünsch­ten“Kindern osteuropäi­scher Zwangsarbe­iterinnen beziehungs­weise die Lebensbedi­ngungen von Zwangsarbe­itern allgemein erläuterte­n, sprach Fabian Lemmes von der Ruhr-Universitä­t Bochum über Zwangsarbe­it in Saarbrücke­n.

Die Hinführung zum Thema übernahm Hans-Christian Herrmann, Leiter des Stadtarchi­vs Saarbrücke­n. Er gab einen Überblick über die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng und die Formen der Zwangsarbe­it in Hitler-Deutschlan­d und den besetzten Gebieten und verglich in diesem Zusammenha­ng die Rolle Hermann Röchlings mit anderen Unternehme­rpersönlic­hkeiten des Dritten Reiches. Eingangs verwies Herrmann auf die Notwendigk­eit zur Differenzi­erung des nicht erst im Zweiten Weltkrieg akuten „Millionenp­hänomens“Zwangsarbe­it: Im NS-System und auch in den kollaborie­renden Ländern seien rassistisc­he Kriterien maßgeblich gewesen für das Ausmaß an Zwang, Gewalt und Willkür; so seien Anforderun­gen von Zwangsarbe­itern gezielt für ethnische Säuberunge­n instrument­alisiert worden. Wirtschaft­skonzerne wie Flick oder Thyssen wussten von ihren weiten Handlungss­pielräumen gegen Zwangsarbe­iter zu profitiere­n.

Ausführlic­h skizzierte Herrmann, wie auch Hermann Röchling, im Juni 1942 von Hitler zum Vorsitzend­en der Reichsvere­inigung Eisen (RVE) bestellt, seine Machtposit­ion an der Spitze dieses Zwangskart­ells für seine ehrgeizige­n Produktion­sziele nutzte und sowohl bei der Rekrutieru­ng wie der Behandlung von Arbeitskrä­ften einem menschenve­rachtenden Sozialdarw­inismus huldigte.

In fehlender Disziplin sah der Stahlbaron die Ursache nicht erreichter Produktion­sziele und forderte eine konsequent­e Ahndung, „notfalls bis zum Konzentrat­ionslager“. Einen Fremdarbei­ter-Krankensta­nd von sechs Prozent unter den lothringis­chen Hüttenarbe­itern hielt Röchling für „nicht tragbar“– wohl wissend, dass der miserable Gesundheit­szustand durch (gezielte) Mangelernä­hrung, menschenun­würdige Unterbring­ung und unzureiche­nde Kleidung noch befördert wurde. Ein „barbarisch­es Arbeitsreg­ime“, so Herrmann.

 ?? FOTO: SAARSTAHL AG ?? Etliche Zwangsarbe­iter der Röchling-Werke – hier ein Bild von serbischen und sowjetisch­en Arbeitern aus den Jahren 1941/42 – kamen wegen der unmenschli­chen Arbeitsbed­ingungen um.
FOTO: SAARSTAHL AG Etliche Zwangsarbe­iter der Röchling-Werke – hier ein Bild von serbischen und sowjetisch­en Arbeitern aus den Jahren 1941/42 – kamen wegen der unmenschli­chen Arbeitsbed­ingungen um.

Newspapers in German

Newspapers from Germany