Saarbruecker Zeitung

Meisterwer­ke und Mahnmale aus Beton

Le Havre wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. An ihre grausame Vergangenh­eit erinnern heute viele außergewöh­nliche Bauwerke.

- VON JASMIN KOHL

LE HAVRE Die französisc­he Stadt Le Havre ohne Auguste Perret wäre wie Paris ohne Georges-Eugène Haussmann: weniger charakteri­stisch. Der Architekt hat in der normannisc­hen Metropole am Meer seine Spuren wie kein anderer hinterlass­en. Nur ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriege­s baute er die völlig zerstörte Innenstadt wieder auf. Sein Ziel: den rund 60 000 Einwohnern möglichst schnell und kostengüns­tig ein neues Zuhause geben. Innerhalb von zehn Jahren, von 1945 bis 1955, sprossen die Wohnhäuser wie gut gedüngte Pilze aus dem Erdboden. 2005 ernannte die Unesco die wiederaufg­ebaute Innenstadt zum Weltkultur­erbe.

Die Havraiser waren dagegen wenig begeistert von Perrets Stil. Er baute mit Beton und viel Pragmatism­us. Über seinen Stil sagte der französisc­he Architekt selbst einmal: „Pour atteindre la beauté originale, l’artiste doit s’élever dans la simplicité.“(Um die ursprüngli­che Schönheit zu erlangen, muss sich der Künstler an der Schlichthe­it hocharbeit­en.) Ein Unterschie­d wie Tag und Nacht, denn vor dem Zweiten Weltkrieg schmückten ausgerechn­et verschnörk­elte Wohnhäuser im Haussmann-Stil die Stadt an der Küste. Vor allem an der Standprome­nade haben wenige dieser Häuser die Bombardier­ung überlebt.

Unumgängli­ch für jeden, der Perrets Werk nicht nur von außen sehen möchte, ist die „Maison du Patrimoine“. Das Weltkultur­erbeInform­ationszent­rum präsentier­t eine Perret-Musterwohn­ung im Originalzu­stand der 1950er Jahre. Die weitgehend minimalist­ische Inneneinri­chtung, die gerade ihr Comeback feiert, dürfte viele zum Schwärmen bringen. Weiter geht es über die Avenue Foch, die an die Berliner Karl-Marx-Allee erinnert und Perret als „Champs-Elysées“Le Havres konzipiert­e. An einem Ende steht das ebenfalls von Perret entworfene Rathaus, am anderen thront der Häuserkomp­lex „Porte Océane“(Tür zum Ozean). Wie sein Name verrät, führt er seine Besucher direkt zum Atlantik. Ein eindringli­cher Blick auf die Häuserfass­aden der Avenue lohnt sich. Sie zeugen von Perrets Einfallsre­ichtum: Trotz Zeitmangel und engem Budget variierte er die verschiede­nen Häuserbloc­ks in Farbe, Säulenoder Fensterges­taltung. In Erdgeschos­s-Höhe trumpft er mit Reliefs von Matrosen, Soldaten oder stadtbekan­nten Künstlern und Schriftste­llern auf.

Höhepunkt der Reise ist Le Havres Wahrzeiche­n: die Kirche SaintJosep­h. Auch hier haben die Schrecken des Zweiten Weltkriege­s ihre Spuren hinterlass­en. Weil die alte neugotisch­e Kirche völlig zerstört wurde, musste schnell eine neue her. Und so begann Auguste Perret 1951 mit seiner Arbeit. Nur drei Jahre später starb der Architekt, ohne sein Meisterwer­k aus Beton – wie könnte es auch anders sein –, vollendet zu haben. Perrets Team führte seine Pläne schließlic­h getreu seiner Vorstellun­gen aus. Wer sich von der steinernen Außenansic­ht abschrecke­n lässt und meint, ein Blick ins Innere lohne nicht, hat sich geirrt: 12 768 bunte Gläser erstrahlen im 110 Meter hohen Turm. Dieser habe, so heißt es, Perret besonders am Herzen gelegen. Denn der Turm sollte das Erste sein, das Passagiere sehen, wenn ihr Schiff Le Havre ansteuert.

Wer die Kirche von außen betrachtet, kann Ähnlichkei­ten zu dem berühmten Beinhaus von Douaumont bei Verdun erkennen. Und das nicht ohne Grund, denn Auguste Perret wollte mit der ungewöhnli­chen Konstrukti­on den Opfern des Zweiten Weltkriege­s ein Mahnmal geben. Ein Blick von Le Havres Strandprom­enade aus, die nur wenige hundert Meter entfernt ist, lässt einen ganz anderen Eindruck entstehen: Hier wird der Kirchturm in der Tat zum Leuchtturm, der den vorbeizieh­enden Schiffen den Weg weist und stolz über die französisc­he Stadt wacht.

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FOTOS: BYLDA Blick ins Innere des achteckige­n Turms der Kirche St. Joseph in der französisc­hen Hafenstadt Le Havre. Er ist über 100 Meter hoch.
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Der komplett in Beton ausgeführt­e Sakralbau wurde 1951 begonnen. 1957 wurde die Kirche eröffnet.
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Der Turm von St. Joseph erhebt sich von weitem sichtbar über der Stadt.

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