SPD stellt für Koalition harte Bedingungen
Die SPD-Spitze will nun doch über eine erneute große Koalition reden, formuliert aber einen langen Wunschzettel.
BERLIN (dpa/afp) Die SPD zieht vor möglichen Gesprächen mit der Union über eine Regierungsbildung zahlreiche rote Linien. Parteichef Martin Schulz sagte gestern in Berlin, einige Punkte seien „essenziell und die Kernsubstanz sozialdemokratischer Programmatik“. Die SPD wolle ein „Maximum“ihres Wahlprogramms durchsetzen, betonte er. Zu den wichtigsten Forderungen zählen eine Bürgerversicherung, die das derzeitige System privater und gesetzlicher Krankenversicherungen ersetzen soll, ein humanitärer Familiennachzug bei Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutz, keine Obergrenze für Flüchtlinge, eine „ambitionierte Klimaschutzpolitik“, eine Solidarrente gegen Altersarmut sowie ein gesetzliches Rückkehrrecht von Teil- auf Vollzeit.
Ein insgesamt vierseitiger Antrag mit weiteren Bedingungen für ein Regierungsbündnis wird nun am Donnerstag einem Parteitag zur Abstimmung vorgelegt. Geben die Delegierten ihr Okay, will Schulz sich schon kommende Woche mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSUChef Horst Seehofer zusammensetzen. Am 15. Dezember sollten dann die SPD-Spitzengremien entscheiden, ob und wie weitere Gespräche geführt werden. „Es gibt für uns keine Vorfestlegungen und keinen Automatismus“, sagte Schulz. Es gebe auch keinen Zeitdruck, weil Deutschland eine handlungsfähige geschäftsführende Regierung habe. Schulz hatte nach dem historisch schlechten Bundestagswahlergebnis eigentlich den Gang in die Opposition angekündigt. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen waren er und andere führende SPD-Politiker aber schrittweise vom strikten Nein zu einer möglichen Neuauflage der großen Koalition abgerückt.
CDU-Vize Thomas Strobl bezeichnete es als „Irrsinn“, wenn nach Jamaika nun auch eine große Koalition nicht zustande käme. An die Adresse der SPD sagte er: „Eine 21-Prozent-Partei kann nicht 100 Prozent ihres Wahlprogramms durchsetzen.“
Sören Bartol, SPD-Fraktionsvize, hat in seinem Marburger Kreisverband mal eine Probeabstimmung durchgeführt. Ergebnis: Null für Neuwahlen, alle für Gespräche mit der Union, „aber ergebnisoffen“. Das trifft wohl die Stimmung in der ganzen SPD und entspricht auch einem einstimmigen Beschluss, den der Bundesvorstand gestern fasste: Der Parteitag am Donnerstag in Berlin soll grünes Licht für Gespräche mit CDU und CSU geben. „Diese Gespräche führen wir konstruktiv und ergebnisoffen“, heißt es im Text.
Was das konkret bedeutet, sagte der Vorsitzende Martin Schulz nicht. „Es gibt viele Optionen“, erklärte Malu Dreyer und nannte neben der großen Koalition auch eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin selbst ist eher für eine Minderheitsregierung der Union. Ulrich Kelber, Staatssekretär im Verbraucherministerium, hat gerade das Modell einer „großen Kooperation“ auf den Markt der Möglichkeiten geworfen. Dazu soll es mit der Union einen Vertrag über wesentliche Fragen geben, etwa über den Haushalt und Europa, aber ansonsten sollen die Partner frei sein, sich von Fall zu Fall Mehrheiten zu suchen. Auch das „Kenia“-Modell wurde schon vorgeschlagen, eine Koalition von Union, SPD und Grünen. „Es gibt für uns keine Vorfestlegung und keinen Automatismus“, heißt es im Beschlusstext der SPD.
Schulz, der noch bis vorletzte Woche strikt dafür war, in die Opposition zu gehen, begründete seine Kehrtwende mit dem Scheitern von Jamaika. „Wir haben eine völlig neue Lage“. Er bestätigte auch, dass ausländische Staatschefs wie Frankreichs Präsident Macron und Griechenlands Premier Tsipras ihn dringend gebeten hätten, wegen der Lage in Europa mit Merkel über eine Regierungsbildung zu reden. Erwartet wird nun, dass der Antrag auf dem Parteitag eine breite Mehrheit bekommt und auch, dass Schulz wiedergewählt wird. Wenn auch nicht erneut mit 100 Prozent. Selbst Parteilinke wie Fraktionsvize Axel Schäfer wollen für das Papier stimmen, auch wenn Schäfer weiter gegen eine neue große Koalition ist: „Was haben wir davon, wenn es am Ende heißt: Regierung gut, Partei tot?“, fragte Schäfer. Nur die Jusos lehnen Gespräche mit der Union weiter grundsätzlich ab.
Das erste Spitzengespräch soll nächste Woche stattfinden. Dort will Schulz klären, „ob die anderen bereit sind, mit uns über die Kernsubstanz unserer Programmatik zu reden“. Der SPD-Parteivorstand soll danach entscheiden, ob man in Sondierungen eintritt. Die würden sich wohl bis Januar hinziehen. Über deren Ergebnisse, so Schulz‘ Vorschlag, soll wiederum der SPD-Parteikonvent beraten, das höchste Gremium zwischen den Parteitagen. Er müsste grünes Licht für Koalitionsverhandlungen geben. Wenn dabei nicht Neuwahlen herauskommen, sondern eine Tolerierung oder eine neue Große Koalition, muss die SPD-Basis per Mitgliederentscheid die letzte Entscheidung treffen. Das Frühjahr wird so locker erreicht.
In die Gespräche geht die SPD mit „essentiellen“Forderungen. Genannt werden in dem Papier unter anderem die Bürgerversicherung, ein sozialeres Europa, die Stabilisierung des heutigen Rentenniveaus und „keine Obergrenze“bei den Flüchtlingen.