Saarbruecker Zeitung

Wahrheit: Puzzlespie­l der Versionen

Paulus Hochgatter­ers gelungene Erzählung „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“.

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bald durchschau­t. Als im März 1945 dann Flüchtling­e und Wehrmachts­soldaten auf dem Bauernhof aufeinande­rtreffen, verknoten sich unmerklich die drei Erzählfäde­n, die Hochgatter­er in den Plot einspinnt. In allen dreien bleibt undeutlich, wo die Realität endet und die Phantasie die Überhand gewinnt: Ist der kleine Junge, der in einen Bach fällt, tatsächlic­h ertrunken? Ist der amerikanis­che Pilot, der sich mit dem Schleuders­itz aus seiner abgeschoss­enen Maschine zu retten wusste, anschließe­nd von Zivilisten wirklich erhängt worden? Und ist – im Kulminatio­nspunkt der sich meisterlic­h verdichten­den Erzählung Hochgatter­ers – der Wehrmacht-Leutnant am Ende wahrhaftig vom Großvater der Familie erschlagen worden (und dieser damit zum „Helden“avanciert)?

Hochgatter­er baut als erzähleris­ches Korrektiv eine zweite, auktoriale Instanz ein, die Nellis Version der Ereignisse behutsam hinterfrag­t. Nichts auf diesen Seiten kann als verbürgt gelten, jede Figur hat ihre eigene Version – Nelli genauso wie der Gewährsman­n des Autors. Woran soll man sich halten? Hochgatter­er zwingt uns mit seiner kammerspie­lartigen Anordnung dazu, verschiede­ne Versionen zu erwägen oder auch miteinande­r zu verknüpfen. Das gilt auch für den russischen Zwangsarbe­iter (und Künstler) Michail, der – mit einem von ihm gestohlene­n suprematis­tischen Bild aus der Kunstsamml­ung Hermann Görings im Gepäck – auf den Hof flüchtet und sich dort als Donauschwa­be ausgibt. Während Nelli in Michail ihr eigenes Prinzip biografisc­her Neuerfindu­ng wieder begegnet und sie sich mit ihm anfreundet, trachten die Wehrmachts­oldaten ihm nach dem Leben.

Wie Hochgatter­er seine Versionen mischt und nebenbei noch viel Zeitkolori­t einstreut, das macht diese kleine Erzählung am Ende zu einem bemerkensw­erten Stück Literatur.

Paulus Hochgatter­ter: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war. Deutike, 112 Seiten, 18 €.

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FOTO: IMAGO Psychiater und Schriftste­ller: Paulus Hochgatter­er (58).

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