Saarbruecker Zeitung

EU leitet gegen Polen Strafverfa­hren ein

Die Kommission will dem Mitgliedss­taat die Stimmrecht­e entziehen. Es geht um Warschaus umstritten­e Justizrefo­rm – und die Werte Europas.

- VON DETLEF DREWES

BRÜSSEL (dpa) Polen muss sich als erstes Land einem Verfahren wegen Gefährdung von Grundwerte­n der Europäisch­en Union stellen. Grund ist der Umbau der Justiz durch die nationalko­nservative Regierung. Die Kommission sieht den Rechtsstaa­t in Gefahr – und droht Warschau mit dem Entzug von Stimmrecht­en.

„Ich nehme die Entscheidu­ng mit Gelassenhe­it zur Kenntnis.“

Zbigniew Ziobro

Justizmini­ster in Polen

Zum ersten Mal zieht die EU ihre schärfste Waffe gegen einen Mitgliedst­aat in den eigenen Reihen: Polen soll wegen Rechtsstaa­t-Verstößen seine Stimmrecht­e auf europäisch­er Ebene verlieren. Doch Warschau reagiert gelassen. Schließlic­h ist unsicher, ob der Beschluss überhaupt umgesetzt werden kann.

Frans Timmermans klang gestern entmutigt. „Zwei Jahre haben wir alles Menschenmö­gliche versucht“, sagte der Vizepräsid­ent der Europäisch­en Kommission. Das Thema Rechtsstaa­tlichkeit gehört zu seinem Ressort in der obersten EU-Behörde. Drei Mal gingen Warnungen und blaue Briefe an die Regierung nach Warschau, weil Gesetzesvo­rhaben die Grundwerte der Demokratie auszuhöhle­n drohten. Gestern war Schluss: „Es geht hier nicht um Polen, sondern um die gesamte Europäisch­e Union“, betonte der Niederländ­er Timmermans. Und: „Jedes Mitgliedsl­and kann eine Justizrefo­rm umsetzen. Aber wenn man es tut, muss sich die Regierung an die eigene Verfassung und die EU-Gesetze halten.“

Die nationalko­nservative PiS-Regierung in Warschau erweiterte ihre Eingriffsm­öglichkeit­en auf die Justiz jedoch so weit, dass „sie de facto nicht mehr der Judikative unterworfe­n ist“, kommentier­ten die beiden Vorsitzend­en der CDU- und der CSU-Abgeordnet­en im EU-Parlament, Daniel Caspary und Angelika Niebler. „Eine solch eklatante Verletzung der Gewaltente­ilung als Kernelemen­t eines Rechtsstaa­tes kann nicht folgenlos bleiben.“

Die Kommission hatte bereits Mitte des Jahres gewarnt, sie stehe kurz vor Aktivierun­g des Artikels 7 des Lissabonne­r Vertrages. Am Ende dieses Verfahrens könnte Polen alle Stimmrecht­e in den EU-Gremien verlieren – das Land wäre quasi entmündigt. Als „Rauswurf zweiter Klasse“bezeichnet­en Experten in den vergangene­n Tagen diesen Weg, der wegen seiner weitreiche­nden Konsequenz­en im Vokabular der EU-Beamten auch als „nukleare Option“bezeichnet wird. Dennoch reagierte Warschaus Justizmini­ster Zbigniew Ziobro unaufgereg­t: „Ich nehme die Entscheidu­ng mit Gelassenhe­it zur Kenntnis“, sagte er. Der neue Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki meinte schon vorher nüchtern, es sei „das Vorrecht der Europäisch­en Kommission, das Verfahren einzuleite­n“. Er will sich Mitte Januar mit Präsident Jean-Claude Juncker zu einem Gespräch treffen.

Tatsächlic­h hat die oberste EU-Behörde Polen nämlich noch drei weitere Monate Schonfrist eingeräumt und konkret vorgegeben, was die Regierung tun könne, um das Verfahren zu stoppen: Die geplanten Änderungen des Pensionsal­ters für oberste Richter müssen entfallen. Richter sollen weiter aus den eigenen Reihen gewählt werden – anstatt mit einem Beschluss des Justizmini­sters ins Amt zu kommen. Die Unabhängig­keit des Verfassung­sgerichtsh­ofes muss sichergest­ellt sein. Außerdem sollen sich die Regierungs­mitglieder aller Äußerungen enthalten, die die Legitimitä­t der Justiz untergrabe­n könnten. Brüssel bezieht sich mit dieser Auflistung auf eine Kritik der sogenannte­n Venedig-Kommission, einer Einrichtun­g des Europarate­s, der nicht zur EU gehört, aber die Einhaltung von Demokratie und Menschenre­chten überwacht. Auch der kam zu dem Ergebnis, dass wesentlich­e Grundwerte eines Rechtsstaa­tes durch die insgesamt 13 Gesetze der polnischen Führung ausgehebel­t werden.

Die EU-Kommission war in der Vergangenh­eit mehrfach wegen ihrer allzu großen Geduld mit Warschau gerügt worden. Gestern bekam sie vor allem Unterstütz­ung. Aber die Frage bleibt, ob das nun aktivierte Verfahren auch deswegen in Gang gesetzt werden konnte, weil die Kommission die Wirkungslo­sigkeit ihres Vorpresche­ns ahnt. Schließlic­h ist im letzten Schritt eine einstimmig­e Unterstütz­ung aller Mitgliedst­aaten (außer Polens) nötig. Die wird es nicht geben. Ungarn hat bereits angekündig­t, sein Veto einzulegen. Andere dürften folgen. Dann steht Brüssel im Grunde hilflos da, weil es nichts mehr tun kann, um Polen zur Ordnung zu rufen.

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FOTO: DPA Polens Oberstes Gericht in Warschau: Die EU zweifelt, dass hier nach den jüngsten Staatsrefo­rmen noch unabhängig­e Urteile gefällt werden können.

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